Grand Theft Hamlet
Dokumentarfilm | Großbritannien 2024 | 89 Minuten
Regie: Sam Crane
Filmdaten
- Originaltitel
- GRAND THEFT HAMLET
- Produktionsland
- Großbritannien
- Produktionsjahr
- 2024
- Produktionsfirma
- Grasp The Nettle Films/Projekt 1961
- Regie
- Sam Crane · Pinny Grylls
- Buch
- Sam Crane · Pinny Grylls
- Kamera
- Pinny Grylls
- Musik
- Jamie Perera
- Schnitt
- Pinny Grylls
- Länge
- 89 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Dokumentarfilm um zwei Schauspieler, die während der Lockdown-Phase der Corona-Pandemie das Projekt starten, innerhalb der virtuellen Welt des Online-Games "Grand Theft Auto" Shakespeares "Hamlet" zur Aufführung zu bringen.
Für viele war die Covid 19-Pandemie eine Zeit der Einsamkeit. Auf der Flucht vor einer Welt, die trotz der Regelungen des privaten wie öffentlichen Lebens zunehmend chaotischer und unberechenbarer schien, machten digitale Welten eskapistische Versprechen. Und so fanden sich die Schauspielerfreunde Sam Crane und Mark Osterveen im Multiplayer-Spiel „Grand Theft Auto Online“ wieder.
Als ihre Avatare ein Kasino verlassen – denn dort ist es zu sehr wie im echten Leben: sie verlieren am Glücksspielautomaten – kommt es zur Schießerei, und plötzlich werden die beiden in eine gewalttätige, aufregende virtuelle Welt verwickelt. Die Fluchtfahrt führt durch die weitläufige Metropole Los Santos: Eine parodistische Replika von Los Angeles als hyperrealer Mikrokosmos samt spieleigener Fernseh- und Radiosender – sowie einem Amphitheater. Wie in einem Automatismus beginnen beide dort, Shakespeares „Hamlet“ zu rezitieren: Während die Theater in England und sonst wo geschlossen bleiben, gibt ihnen das Videospiel eine Bühne.
Können Avatare schauspielern?
Aus dieser Szene erwächst eine künstlerische Vision, eine Versuchsanleitung, die prädestiniert ist, kommende Englischkurse im Würgegriff zu halten: Wie ist eine Aufführung von „Hamlet“ im Videospiel möglich? Lässt sich mit den Animationen der Avatare schauspielern? Und welche Bedeutungen sind einem Text, der immerhin über vierhundert Jahre alt ist, in der heutigen, schnelllebigen Zeit und in einem völlig neuartigen Kontext wie dem Kosmos eines Online-Games abzugewinnen?
„Hamlet“ ist das wahrscheinlich bekannteste Schauspiel überhaupt. In einer durch den Tod des alten Königs zerbrochenen Welt ist der junge Prinz von Dänemark innerlich zerrissen zwischen Tugend und Rache, Methode und Wahnsinn. Genau dieses Verharren im Dazwischen wird zum Fehltritt des tragischen Hamlet, der viel nachdenkt, aber nicht genug handelt – eine Anti-Hybris.
Die Rückbesinnung auf den traditionsreichen „Hamlet“-Stoff steht als Akt kultureller Selbstfestigung nur im scheinbaren Kontrast zur hypermodernen Welt von „Grand Theft Auto“, einer der erfolgreichsten Videospielreihen, wenn man so will einem Klassiker einer anderen Kunst (Teil 1 der Spielereihe erschien 1997). Die Storys über das Leben als Gangster in der Großstadt und organisierte Kriminalität haben Umsätze in Milliardenhöhe gemacht. In ihrer krassen Gewalt sind sie den Dramen Shakespeares nicht unähnlich, in denen ja auch ständig Menschen Machtkämpfen zum Opfer fallen.
You Can’t Stop Art, Motherfuckers!
Die erste Rezitation im virtuellen Amphitheater endet gleich im Gemetzel. In Los Santos werden keine Tomaten auf die Bühne geworfen, sondern das Feuer eröffnet. Die Kontraste prallen cinepoetisch aufeinander: Die Ordnung des Shakespeare’schen Versmaßes im jambischen Fünfheber trifft auf das Chaos der Straßenschießereien. Leben und Tod. Idylle und Groteske. Menschen und Staub. Es sind die ungeplanten und unvorhergesehenen Momente, die einen eigentümlichen Reiz des Films ausmachen. Zum Beispiel dann, wenn ein Alien im Hintergrund der großen Sterbeszene lasziv tanzt.
Dass die Welt außerhalb des Spiels dabei ebenso gewaltsam ist, führt „Grand Theft Hamlet“ bis zur Ausreizung vor. Zwischenmenschliche Konflikte werden bemüht affizierend in die Spielwelt hereingeholt und künstlerpathetisch eingefasst. Der erfrischende Drive des Chaos wird dabei von, trotz des dokumentarischen Anspruchs aufgesetzten, Szenen genommen, die das Geschehen erklärend rahmen.
„Grand Theft Hamlet“ ist komplett im Spiel inszeniert, was den Film kameraästhetisch an seine Grenzen führt. Hinterlegt von einer Art Fahrstuhlmusik, werden dafür große Schauerte geboten: dramatische Szenen auf Zeppelinen, Monologe vor brechenden Wellen, durchsichtige Menschen, Penthäuser, Skylines, Yachten. Es ist aber nicht die Aufführung, die in den Fokus rückt, sondern der Prozess des Theatermachens, der Bedeutung aus dem Chaos schafft.
Neue Weltordnung
Der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt interpretiert Hamlets Zerrissenheit in seiner einflussreichen Studie „Hamlet in Purgatory“ (dt. „Hamlet im Fegefeuer“) vor dem Hintergrund des epochalen Umbruchs von Katholizismus zu Anglikanismus. Hamlet, der junge Mann aus Wittenberg, wird vom katholischen Geist seines Vaters heimgesucht. Ob und wie er im Akt der Rache Genugtuung finden kann, ist an die (Un-)Zugehörigkeit zu zwei widersprüchlichen Denksystemen gebunden.
Auch in „Grand Theft Hamlet“ ist man gefangen zwischen zwei Weltbildern. Im fragilen Potenzial der Online-Community verbinden sich Leben und Spiel indes auf produktive Weisen: Im virtuellen Rollenspiel können Tanten Schauspielerinnen werden, bis sich am nächsten Tag doch der Neffe verwechslungskomödiantisch hinter dem Avatar verbirgt. Und in einer Transperson hallt Hamlets Suche nach Wahrheit wider.
In Zeiten größter Unsicherheit stellt sich damit die ultimative Frage: Sein oder nicht sein? Wie kann man in einer chaotischen Welt bestehen? „Grand Theft Hamlet“ ist ein Testament, das „wütende Geschick“ anzunehmen. Auf die Welt zuzugehen – und sei es über das virtuelle Medium. Wo Unvorhersehbares ist, kann dann etwas Neues entstehen. Poesie des Chaos.