Drama | USA 2023 | 107 Minuten

Regie: Greg Kwedar

Ein schauspielerisch begabter Neuankömmling im berüchtigten Sing-Sing-Gefängnis bei New York verändert die Dynamik einer Theatergruppe, die unter Leitung eines passionierten Amateur-Schauspielers den Häftlingen bei der Rehabilitierung helfen soll. Statt Shakespeare wird plötzlich ein wildes Zeitreise-Stück geprobt und die Kunst der Verwandlung hilft den Insassen dabei, ihrem tristen Alltag zu entkommen. Das auf realen Begebenheiten beruhende Drama verbindet fiktive und semi-dokumentarische Elemente, ein großer Teil der Darsteller kennt die Gefängniswelt aus eigener Erfahrung. Die geerdete Gefängniserzählung wird dabei dem fantastischen, überbordenden Bühnenstück gegenübergestellt, wobei der Film im Werben um Sympathie für die Gefangenen eher vorhersehbare Mittel bemüht. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SING SING
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Black Bear/Edith Prod./Marfa Peach Comp.
Regie
Greg Kwedar
Buch
Clint Bentley · Greg Kwedar
Kamera
Pat Scola
Musik
Bryce Dessner
Schnitt
Parker Laramie
Darsteller
Colman Domingo (John "Divine G" Whitfield) · Clarence Maclin (Clarence Maclin) · Sean San José (Mike Mike) · Paul Raci (Brent Buell) · David Giraudy (David Giraudy)
Länge
107 Minuten
Kinostart
27.02.2025
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Gefängnisfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Ein Drama nach realen Begebenheiten um das New Yorker Sing-Sing-Gefängnis, in dem ein Neuzugang die Theatergruppe aufmischt, die bislang mit klassischen Stücken ihrem tristen Alltag ein Stück weit entfliehen konnte.

Aktualisiert am
25.02.2025 - 17:50:18
Diskussion

Die verzweifelte Sehnsucht nach der echten Welt stellt eine eigene Traditionslinie im Hollywood-Kino dar. Immer wieder wollten ausgerechnet die Menschen an den Schalthebeln der Illusionsmaschine mit dieser brechen. Das führt zu Gesten des Ausbruchs, die immer so präsentiert werden, als hätte nie jemand zuvor von ihnen Gebrauch gemacht. Improvisation, Originalschauplätze, bestimmte Formen von Method Acting – es gibt viele Indikatoren, die Authentizität suggerieren sollen. Doch ausgerechnet ein simpler Trick hat es Hollywood besonders angetan: Am Ende vieler Filmbiografien verwandeln sich die Bilder plötzlich in Archivaufnahmen, die fiktiven Figuren, mit denen man bislang gelacht und geweint hat, weichen ihren realen Vorbildern.

Das Kino flieht in die Wirklichkeit

Die Fiktion braucht scheinbar doch die Emphase des Realen, um zum Publikum durchzudringen. Das Kino flieht in die Wirklichkeit. Im Fall von „Sing Sing“ ist diese alte Taschenspielerei besonders fehl am Platz, denn der Film erzählt eigentlich von einer ganz anderen Art von Verwandlung.

Im Mittelpunkt des Films von Greg Kwedar steht John Whitfield, gespielt von Colman Domingo. Einen großen Teil seiner mindestens 25-jährigen Haftstrafe hat Whitfield im Selbststudium verbracht. Er berät andere Gefangene für ihre Bewährungsanhörungen, schreibt Romane und Bühnenstücke und wirkt an dem Theaterprogramm „Rehabilitation Through the Arts“ mit. Ein Mustergefangener, der meist unter dem Namen Divine G auftritt, aber immer nur anderen helfen kann und selbst eingesperrt bleibt. Ihn umgibt die Tragik der Shakespeare-Helden, die er auf der Bühne so gerne verkörpert. Er weiß, wovon er spricht, wenn er als Hamlet „des Stolzen Misshandlungen“ und vor allem „des Rechtes Aufschub“ oder „den Übermut der Ämter“ beklagt.

Eines Tages tritt ein neuer Fall in sein Leben. Clarence Maclin, auch bekannt als Divine Eye, ist zuerst skeptisch, ob er wirklich etwas zu einer Theatergruppe beitragen kann. Er ist verschlossen und abweisend, ihm sind die Stoffe zu ernst oder zu bieder. Ohnehin lassen ihm seine Erfahrungen auf der Straße die Anstrengungen von Whitfield reichlich versnobt erscheinen. Auf sein Ansinnen entsteht ein neues Stück – eines mit Zeitreisen, Wikingern, Pharaonen und Gesangseinlagen. Zumindest Hamlet kommt immer noch vor.

Damit ist „Sing Sing“ ein Film über die Sehnsucht nach neuen Geschichten über Afroamerikaner, in dem die geerdete Gefängniserzählung dem fantastischen, überbordenden Bühnenstück gegenübertritt. Grau weicht flächigen Farben, das Sein-Müssen dem Sein-Können. In der Form des Films schwingt immerzu die Frage mit, in welchen Bildern man eingesperrt und in welchen man frei ist.

Zwischen den Stäben

Das aber ist nicht so leicht zu beantworten. Mal sind statische Totalen ein Raum der Freiheit, wenn die Theatergruppe sich in Schauspielübungen an andere Orte imaginiert, mal zeigen hektische Handkamerafahrten, dass auch ein Gefängnis-Innenhof einen eigenen Mikrokosmos voller Leben darstellt. Das Dasein wird geometrisch arrangiert und Menschen stehen so starr wie Gitterstäbe in Schlangen, im Hintergrund erstreckt sich ein unendlicher Horizont, nach dem man nur traurig die Hände ausstrecken kann. „Sing Sing“ befindet sich im steten Wechsel zwischen Freiheits- und Gefangenschafts-Bildern, bis sie eins werden.

Das größte Spektakel des Films ist Colman Domingos Gesicht, das zwischen hilfloser Verzweiflung und euphorischem Glück ein eigenes kleines Universum eröffnet. Man glaubt ihm Lysanders Liebesschwüre, als würde dieser Hermia nie verraten, man glaubt ihm Hamlets Weltschmerz und natürlich auch die Rolle als Opfer eines Systems, das trotzdem nie das Vertrauen in die Justiz verloren hat. Als Zuschauer glaubt man ihm mit der Intensität, mit der die Gefängnismaschinerie ihm misstraut.

Der ruppige Neuankömmling Clarence Maclin spielt sich selbst. Maclin hat wirklich 17 Jahre in der Sing Sing Correctional Facility verbracht und in dieser Zeit am Theaterprogramm teilgenommen. Der Besetzung ist voll von Verurteilten, die sich selbst darstellen. „Sing Sing“ ist also auch ein Film über Schauspielerei und die Möglichkeit, ein anderer zu werden. Das ist zumindest theoretisch auch das Ziel einer Haftanstalt, wobei die Realität (nicht nur) in einem Land mit privat geführten Gefängnissen oft anders aussieht. Sind ihre Stücke wirklich fiktiver als die Erzählung des Pledge of Allegiance mit der Formulierung „One Nation under God, indivisible, with liberty and justice for all“?

Eine Einladung zur Empathie

Größere Offenbarungen erlangt man aus den Gesichtern der Amateurschauspieler allerdings nicht. Der Film betont einmal mehr, dass auch Gefangene Menschen sind, dass man Verurteilte nicht weiter verurteilen muss, und auch, dass der Mensch in der Verkörperung fremder Rollen zu sich selbst finden kann. „Sing Sing“ ist eine Einladung zur Empathie, mit allen Limitierungen, die solch ein Appell mit sich bringt.

In einer späten Szene des Films steht Whitfield vor einem Gremium, das über seine Entlassung berät. Er berichtet gerade stolz von seinem Theaterprogramm, als er plötzlich gefragt wird, ob er auch in der Anhörung gerade schauspielern würde. Sein Lächeln erstirbt, verlässt unter Zucken und Augenflattern sein Gesicht und verwandelt sich in traurige Erklärungsversuche. Den anklagenden Ton der Sitzungsleiterin kennt man aus der Geschichte der Kunstkritik. Es ist ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Geschichten – auch gegenüber denen, die Menschen von sich selbst erzählen. Umso trauriger, dass der Film schlussendlich selbst in diesen Ton einstimmt, wenn er Domingos unsicheren Blick in die Freiheit durch Archivaufnahmen ersetzt.

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