Zeppelin oben rechts

Dokumentarfilm | Deutschland 2024 | 92 Minuten

Regie: Oliver Duerr

Im Atelier23 der Lebenshilfe Gießen arbeiten Künstler:innen mit physischer und psychischer Beeinträchtigung an ihren Werken. Über mehrere Jahre beobachtet der Dokumentarfilm die Entstehung der Bilder und Objekte und befragt Kunstschaffende wie Betreuende zu Atelieralltag und künstlerischer Praxis. In dem Porträt einer inklusiven, mit viel Engagement geführten Einrichtung steht das Sprechen im Vordergrund. Der Einblick in das prozesshafte Arbeiten wird durch ein auf Unschärfen setzendes visuelles Konzept allerdings erschwert. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Dürr & O'Connor Prod.
Regie
Oliver Duerr
Buch
Oliver Duerr
Kamera
Oliver Duerr
Musik
Nicolas Juppe · Lennard Kaminski
Schnitt
Oliver Duerr
Länge
92 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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TMDB

Doku über das Atelier23 der Lebenshilfe Gießen, in dem Künster:innen mit physischer und psychischer Beeinträchtigung tätig sind.

Diskussion

Birgit Gigler mag große Bilder, weil sie da mehr zu tun hat. Wegen der Belastungen für ihren Rücken musste sie jedoch zu mittleren Formaten wechseln; jetzt sitzt sie beim Malen an einem großen Tisch. Ihre in kräftigen Farben strahlenden Frauenporträts zeigen Figuren in stilisierten Posen. Die Vorlage findet sie in Magazinen; auch Lady Gaga war schon dabei.

In die mit schwarzem Fineliner gezeichneten architekturhaften Gebilde von Jens Blechmann sind collagierte Elemente eingewoben; manchmal bündeln sich die Formen zu Clustern, um sich an anderer Stelle wieder zu zerstreuen. Uwe Breckner arbeitet nicht nur im übertragenen Sinn skulptural. Seine modellhaften, vorwiegend aus Pappe gefertigten Fahrgeschäfte sind aus der Erinnerung rekonstruiert. Manchmal aber rutscht ihm die Erinnerung weg, und das Werk bleibt unvollendet.

Wie Birgit Gigler und Jens Blechmann hat auch Uwe Breckner seinen Arbeitsplatz im Atelier23 der Lebenshilfe Gießen, einer Produktionsstätte für Künstler:innen mit physischer und psychischer Beeinträchtigung. Das in einem Hinterhof gelegene Atelier ist hell, mit hohen Decken, Werktischen und Sofas. Die Sofas sind wichtig. Vor allem der Fotograf Andreas Kuhl lässt sich immer wieder darauf nieder, um seinen aufgewühlten Körper zu beruhigen. Die Kunstwerkstatt mit Anbindung an einen Ausstellungsraum verströmt WG-Atmosphäre.

Malen und Zeichnen seit Kindheit an

Zwischen 2019 und 2023 hat der Filmemacher Olli Duerr die Kunstschaffenden und Betreuenden mit der Kamera begleitet. „Zeppelin oben rechts“, so auch der Titel einer Arbeit von Jens Blechmann, möchte dabei weniger die Beeinträchtigungen als vielmehr die Kunst zum Thema machen. Auch wenn nicht alle Porträtierten sich als Künstlerin oder Künstler bezeichnen würden, nimmt sie der Film als solche wahr und auch ernst. Die meisten von ihnen haben schon in der Kindheit mit Malen und Zeichnen begonnen. Mirka Holsteinová erinnert sich, wie sie mit fünf Jahren ihrer Mutter Geld klaute, um sich Filzstifte zu kaufen.

Noch bevor die Künstler:innen und ihr Arbeiten ins Bild treten, stellt die Leiterin Andrea Lührig die Initiative aus dem Off vor; die Selbstrepräsentation ist damit von Anfang an Teil des Films. Als Kameramann einer kleinen Produktionsfirma hat Duerr vor Jahren einen Imagefilm für die Lebenshilfe Gießen gedreht; ein eher vermittelnder Blick ist auch „Zeppelin oben rechts“ eigen. Die Einteilung in drei Kapitel gibt dem Film eine überschaubare Struktur. Von der Vorstellung der verschiedenen Protagonisten – es sind nicht wenige und gerade anfangs wirken sie etwas hastig aneinandergereiht – verlagert sich der Fokus allmählich auf Leben und Alltag mit Beeinträchtigung. Im abschließenden Teil verlässt der Film das Atelier, um sich in die Öffentlichkeit der Galerie zu begeben. Bei einer Vernissage sind die in der Werkstatt entstandenen Arbeiten ganz offiziell als „Kunst“ zu sehen und stehen als solche auch zum Verkauf.

„Zeppelin oben rechts“ ist eine Mischung aus mal „stiller“, mal mehr teilnehmender Beobachtung und klassischem Interview. Die Fragen des Filmemachers sind nicht zu hören, gehen aber recht eindeutig aus den Antworten hervor: Verstehst du dich als Künstler:in? Was ist deine Lieblingsfarbe? Was hat sich in den Jahren verändert? Arbeitest du lieber im Stillen oder mit Musik? Wie ist die Gemeinschaft im Atelier?

Ein eigenwilliges visuelles Konzept

Der Einblick in den kreativen Prozess bleibt indes eingeschränkt, obwohl die Künstler:innen durchaus bei der Arbeit an ihren Werken zu sehen sind. Denn Duerr, der auch die Kamera führt, hat sich für ein visuelles Konzept entschieden, das alles andere als sachlich ist. Teile des Bildes verschwimmen in Unschärfen, die zahlreichen Close-Ups gelten vorwiegend Zeichengeräten wie Stift und Kreide sowie, stets dominant im Bild, dem Gesicht. Was auch immer dieser Stilentscheidung an Überlegungen vorausgegangen sein mag: sie verschenkt die Möglichkeit, der Entstehung einer Arbeit folgen zu können, zu erfahren, wie aus Linien und Strichen Form wird. Eben das gelingt in einem anderen Film, der in einer ganz ähnlichen Einrichtung in Berlin gedreht wurde, in „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist“ von Sabine Herpich. Der Vergleich drängt sich mehrmals auf und legt auch andere Leerstellen offen – etwa, dass der Film den größeren (auch räumlichen) Zusammenhang nur momenthaft zu fassen bekommt.

Dafür kommen in „Zeppelin oben rechts“ die künstlerischen Arbeiten über das Sprechen nahe: etwa wenn Eric Kosuth, der seit einer neurologischen Erkrankung körperlich stark eingeschränkt ist, von der Anstrengung berichtet, die es ihn kostet, seine prähistorischen Tiere aufs Papier zu bringen, oder Birgit Gigler von der Angst vor Umrandungen spricht. Am Ende kann sie es kaum fassen, dass tatsächlich jemand eines ihrer Frauenporträts gekauft hat.

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