Filmessay | Deutschland/Polen 2023 | 100 Minuten

Regie: Bernhard Sallmann

Biografisch-literarische Reflexion über den Schriftsteller Gerhart Pohl, der sich 1932 in ein Holzhaus im Riesengebirge zurückzog, dort die NS-Zeit überlebte und viele Geflüchtete versteckte, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der heute zu Polen gehörenden Region Schlesien vertrieben wurden. Der Dokumentarfilm denkt in Gestalt einer kontemplativen Collage aus biografischen Details, Textpassagen aus Pohls Schlüsselwerk „Fluchtburg“ und meditativen Landschaftsaufnahmen über einen Menschen nach, der sich angesichts einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung dagegen entschied, die Welt nur schwarz und weiß zu sehen. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Polen
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Bernhard Sallmann Prod.
Regie
Bernhard Sallmann
Buch
Bernhard Sallmann
Kamera
Martin Wolff
Schnitt
Christoph Krüger
Länge
100 Minuten
Kinostart
23.05.2024
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Filmessay

Biografisch-literarische Reflexion über den Schriftsteller Gerhart Pohl (1902-1966), der sich in der NS-Zeit, aber auch in Ost- wie Westdeutschland nicht den Zeitläuften anpasste.

Diskussion

Geschichte ist komplex. Für viele zu komplex. Um das auszuhalten, funktioniert manchmal ein kontemplativer Ansatz. Etwa in der Art, wie in Bernhard Sallmann in seinem Film „Fluchtburg“ vorschlägt, der von dem Schriftsteller und Lektor Gerhart Pohl (1902-1966) handelt. In dem gleichnamigen Roman „Fluchtburg“ (1955) beschrieb Pohl akribisch, warum und wie totalitäre Systeme im Kleinen funktionieren. Dabei hatte er nicht nur das Terrorregime der Nazis im Sinn, sondern auch die Vertreibung der Deutschen aus Schlesien.

Die Nazis verpassten ihm Berufsverbot

Sein Holzhaus im skandinavischen Stil, das im Schatten der Schneekoppe im damals zu Deutschland gehörenden Riesengebirge lag, erwarb Pohl 1932 von der jüdischen Witwe Charlotte Citron. Vielleicht ein Notverkauf, da sich das braune Unheil schon abzeichnete und die Familie Citron ihre Emigration aus Deutschland vorbereitete. Dem Schriftsteller diente das Haus als Rückzugsort. Er war von den Nachwehen der Wirtschaftskrise angeschlagen, in der nicht nur eine seiner Stammpublikationen, die angesehene Zeitschrift „Neue Bücherschau“, eingestellt wurde, für die er zeitweise als Herausgeber fungierte. Inmitten einer Atmosphäre politischer und gesellschaftlicher Polarisierung fühlte er sich zunehmend fremd. Kurz nach der Machtergreifung der Nazis wurde er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkam. Gerhart Hauptmann und andere setzten sich diskret für Pohl ein, und so durfte dieser ab 1939 wieder publizieren.

Das Haus in Krummhübel-Wolfshau, heute Karpacz, wurde zum Ort, an dem sich oppositionelle Intellektuelle trafen. Später versteckten Pohl und seine Frau Marte hier zahlreiche Flüchtlinge auf dem Weg in die bis zur Besetzung durch Deutschland demokratische Tschechoslowakei. Herkunft und Ideologie spielten dabei keine Rolle. Zu den Durchreisenden gehörte sowohl Kommunisten wie der Grafiker und Autor Johannes Wüsten als auch der protestantische Theologe Jochen Klepper.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Ehepaar im Zuge der von Stalin initiierten „Westverschiebung“ Polens zusammen mit den meisten anderen Deutschen aus Schlesien vertrieben. Pohl ging nach West-Berlin und schrieb unter dem Pseudonym Silesius alter dagegen an, dass seine Heimat jetzt zu Polen gehörte. Er wehrte sich gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, war aber gleichzeitig eng mit dem späteren DDR-Kulturminister Johannes R. Becher befreundet.

Ein Leben zwischen den Stühlen

Heute würde man sagen, dass Pohl den Dialog mit allen Seiten gepflegt hat. Dass auf mehreren Stühlen zu sitzen aber immer auch bedeutet, zwischen den Stühlen zu leben, zeigt sich in der geradezu verzweifelten Sprache seines zentralen Romans „Fluchtburg“. Darin beschrieb er zehn Jahre nach Kriegsende, wie sich die Mechanismen eines totalitären Staates in die Gesellschaft hineinfressen. Er berichtete von Tätern, Mitläufern, Verrätern und Verratenen. Den Namen Adolf Hitler erwähnt er nicht; sein Schreckensherrscher heißt Belial, eine dämonische Gestalt aus der Bibel.

Die „Fluchtburg“ ist das Haus in Krummhübel, das hier Krummenau genannt wird. Hier kreuzen sich die Wege von Verfolgern und Verfolgten, was realen Schicksalen nachempfunden ist. Wie auch die Geschichte nach der Geschichte: Auch die Vertreibung aus der Fluchtburg schildert Pohl und beschreibt akribisch, wie ihn polnische Soldaten vertrieben. Wieder kam es zu Gewalt.

Bemerkenswert ist, dass dieses Buch nur zehn Jahre nach dem Ende des Nazi-Terrors erschien. Die politische Kultur in Deutschland hat länger gebraucht, um sich der Erinnerung zu nähern. Dass Pohl auch über polnische Rache an Deutschen schrieb, dürfte ihn ein paar Jahre später seinen angemessenen Platz in der Ahnengalerie der Erinnerungskultur in der DDR gekostet haben.

Mit der Kamera auf Wanderschaft

Bernhard Sallmann, ein Meister des kontemplativen Dokumentarfilms, zitiert ganze Passagen aus dem Roman, ergänzt um biografische Details. Bebildert ist das mit Eindrücken aus dem Riesengebirge. Schnee, dunkle Wälder, hohe Fichten, tauendes Eis, Hochnebel. Eine düstere Landschaft, mit der „Fluchtburg“ wie einem Hexenhaus dazwischen. Unnahbar im Wald versteckt, bildet das Haus das architektonische Gegenstück zum futuristischen Gebäude der „polnischen Baude“ auf der Schneekuppe, das wie eine fliegende Untertasse auf der polnischen Seite liegt. Gebaut zwischen 1964 und 1974, erinnert dessen Architektur an das sozialistische Versprechen, dass in der Zukunft alles besser werde. Das Holzhaus unten mahnt hingegen, die Geschichte nicht zu vergessen. Vor Kurzem wurde es renoviert.

Sallmann, der sich mit seiner Kamera auf Wanderung begibt, ruft diese Geschichte in Erinnerung, im Andenken an den 1966 verstorbenen Protagonisten Gerhart Pohl, der für die einen Volksfeind, für die anderen ein Revanchist war. Er war seiner Zeit voraus, um kurz darauf in ihr zu verschwinden. Einer, der nicht schwarz-weiß denken wollte, weil er miterlebt hatte, wozu das führt. Von solchen Menschen könnte man heute dringend mehr gebrauchen.

Kommentar verfassen

Kommentieren