Filmessay | Frankreich/Israel/Deutschland 2022 | 135 Minuten

Regie: Dror Moreh

Ein essayistischer Film geht der Frage nach, wie (Bürger-)Kriege verhindert werden können. Beim Streifzug durch die Krisenherde der vergangenen drei Jahrzehnte werden die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien, in Ruanda und Syrien so detailreich wie bündig rekonstruiert und die erfolgten politischen Gegenmaßnahmen, insbesondere unter maßgeblicher Führung der USA, einer kritischen Betrachtung unterzogen. Mit der Politikberaterin Samantha Power plädiert der Film für ein militärisches Eingriffen der USA, wenn konkrete Anzeichen für einen Völkermord vorliegen. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE CORRIDORS OF POWER
Produktionsland
Frankreich/Israel/Deutschland
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Les Films du Poisson/Dror Moreh Prod./Katuh Studio/The Post Republic
Regie
Dror Moreh
Buch
Dror Moreh
Kamera
Kobi Zaig-Mendez
Musik
Freya Arde
Schnitt
Oron Adar · Stephan Krumbiegel
Länge
135 Minuten
Kinostart
30.05.2024
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Filmessay
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Essayistischer Film über die (Bürger-)Kriege der Gegenwart und die Suche nach Möglichkeiten, mit wertegeleiteten Interventionen von außen mäßigend einzugreifen.

Diskussion

Es ist nicht verständlich, warum der deutsche Verleih den Film „The Corridors of Power“ unter dem Titel „Kulissen der Macht“ in die Kinos bringt. Denn damit wird eine Semantik der Vordergründigkeit aufgerufen und die Vermutung, dass hier der Versuch unternommen werde, einen Blick „hinter die Kulissen“ der Macht zu werfen. Das aber ist keineswegs die Absicht des Films, der im Original viel nüchterner und gleichwohl anspielungsreicher „Korridore der Macht“ heißt.

„Korridor der Macht“ kann man auf die räumliche Enge vieler konkreter, physischer Räume der Macht beziehen, etwa auf den zumindest auf Fotografien oft klaustrophobisch anmutenden „Situation Room“ im Weißen Haus, in dem sich US-amerikanische Regierungsvertreter und Militärs in Krisensituationen beraten und der auch in dem Film von Dror Moreh immer wieder im Bild auftaucht. Metaphorisch verweist der Korridor auf die gleichfalls oft eng zugeschnittenen Zeit- und Möglichkeitsfenster, in denen die Weltpolitik in Zeiten internationaler Krisen agieren muss.

Von Angesicht zu Angesicht

Es geht im Film also um Entscheidungen, die von wenigen Menschen getroffen werden. Von Menschen, die sich, während sie über diesen Entscheidungen brüten, zumeist von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen und die außerdem unter Zeitdruck und im Wissen um mögliche fürchterliche Konsequenzen ihrer Handlungen agieren. Was wird in diesen Korridoren der Macht entschieden? Nichts weniger als das Schicksal der Gegenwart.

Moreh wendet sich in dem Film der Weltpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges zu, und zwar aus der Perspektive der Außenpolitik der letzten verbliebenen Supermacht, der USA. Die Leitfrage, entlang derer der Film konstruiert ist, erscheint angesichts der jüngeren Nachrichtenlage nur zu aktuell: Kann es der internationalen Politik jetzt, da die Zeit der Systemkonkurrenz vorüber ist, endlich gelingen, Lehren aus der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu ziehen, dem Zweiten Weltkrieg und vor allem dem Holocaust? Ist es der Welt möglich, das vielfach beschworene „Nie wieder!“ in konkrete (Macht-)Politik zu verwandeln?

Jugoslawien, Ruanda, Syrien

Um der Beantwortung dieser Fragen näher zu kommen, unternimmt der Film einen Streifzug durch diverse Krisenherde der letzten drei Jahrzehnte. Besonders viel Raum nehmen die (Bürger-)Kriege im ehemaligen Jugoslawien, in Ruanda und in Syrien ein, also Konflikte, in deren Verlauf es zu Mordkampagnen gegen einzelne Ethnien gekommen ist, und zwar in Größenordnungen, die es notwendig machen, von Völkermord zu sprechen. Man sieht die damaligen Nachrichtenbilder des Schreckens, während Talking Heads die zugehörigen politischen Entscheidungen rekonstruieren und kommentieren. Wieder und wieder läuft das auf eine Entscheidung zwischen zwei Alternativen heraus: Soll die USA aktiv werden oder nicht, wenn außerhalb ihres Territoriums Menschenrechte massiv verletzt werden?

Die Stärke des formal unauffälligen, an der Visualität zeitgenössischer Infotainment-Formate orientierten und mit einem allzu suggestiven Soundtrack unterlegten Films liegt in der bündigen, gut nachvollziehbaren und, soweit möglich, der an historischer Faktenlage orientierten Rekonstruktion dieser Konflikte. Und in der, bei allen Differenzierungen und Abwägungen letztlich doch klaren politischen Positionierung des Films. Fast immer, so die Argumentation, wäre im Rückblick das Eingreifen der US-Truppen dem Nichteingreifen vorzuziehen gewesen.

Negativbeispiele gibt es genug: der Bosnienkrieg, in dem Bill Clinton die serbische Regierung unter Milošević allzu lange gewähren ließ. Der Völkermord in Ruanda, der in den USA ganz unten auf der weltpolitischen Agenda stand. Der Syrienkonflikt, in dessen Verlauf Obama dem russischen Druck nachgab und darauf verzichtete, das Assad-Regime entschieden zu bekämpfen. Als Positivbeispiel taugt höchstens das rasche Eingreifen Clintons im Kosovokrieg.

Trump und die Folgen werden ausgespart

Man muss diese Position nicht teilen. Denn sie läuft auf eine Delegitimierung der Vereinten Nationen hinaus. Das Vetorecht Russlands und Chinas im ständigen Sicherheitsrat wird im Film auch explizit attackiert, als eine Art Schutzschirm für Völkermörder. Auch die westeuropäischen Mächte kommen eher schlecht weg, da sie als zögerliche und unzuverlässige Partner der US-Amerikaner beschrieben werden.

Gleichwohl lässt sich kaum bestreiten, dass zumindest in dem vom Film behandelten Zeitraum – der Film endet mit Obamas Amtszeit; Trump und die Folgen bleiben fast schon ostentativ ausgespart – die weltpolitische Dominanz der USA schlichtweg ein Faktum war. Und dass die Alternative zu dem, was heute nicht selten abschätzig „wertegeleitete Außenpolitik“ heißt, in einer „interessengeleiteten Außenpolitik“ besteht.

Zu den stärksten Passagen des Films gehören jene, die ausführen, weshalb dieses sogenannte „Interesse“ eine noch weitaus problematischere Kategorie darstellt als die ihrerseits notorisch biegsamen „Werte“. Denn wo „Werte“ sich zumindest auf einen intersubjektiv geteilten Horror angesichts von Leichenbergen berufen können (womit freilich bis auf Handlungsbedarf noch nichts entschieden ist), kann die Politik, soweit sie sich an durchwegs selbstgesetzten „Interessen“ orientiert, schlichtweg alles rechtfertigen.

Pflicht zur Intervention

Gewährsfrau für Morehs Thesen und seine Präferenz für Werte gegenüber Interessen ist Samantha Power, eine in London geborene irische Journalistin, die in den 1990er-Jahren als Autorin bekannt wurde. Ihr wichtigstes Buch heißt „A Problem from Hell - America in the Age of Genocide“, das aber bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Das von Power und auch anderen Interviewten in diversen Variationen im Film wiederholte Mantra lautet: Die USA habe immer dann eine Pflicht für eine interventionistische Außenpolitik, wenn konkrete Anzeichen für einen Völkermord vorliegen. Seit 2008 versucht Power diese Überzeugung in direktes politisches Handeln zu übersetzen. Sie war Teil der Obama-Administration und ist derzeit auch Teil der Biden-Administration. „Kulissen der Macht“ ist, so gesehen, ein Film aus der Perspektive der Macht. Das spricht aber keineswegs gegen ihn.

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