Dokumentarfilm | Deutschland 2023 | 93 Minuten

Regie: Jonathan Schörnig

Echtzeitdokumentation über die Seenotrettung des deutschen Hilfsschiffes „Eleonore“ am 26. August 2019 auf dem Mittelmeer. Der Film vergegenwärtigt den quälend langen Prozess, wie 104 Personen von einem im Sinken begriffenen Schlauchboot gerettet werden, mit insgesamt sechs Kameras, die als separate Kacheln auf der Leinwand zu sehen sind. Die Splitscreen-Ästhetik vermittelt eine große Fülle unterschiedlichster Informationen, Momente und Emotionen. Neben der dokumentarischen Qualität einer Augenzeugenperspektive macht der Film auch deutlich, dass es neben Mut und Solidarität einer kühlen Planung und Logistik bedarf, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
U.N TV-Produktion
Regie
Jonathan Schörnig
Buch
Jonathan Schörnig
Kamera
Jonathan Schörnig · Johannes Filous
Schnitt
Jonathan Schörnig · Moritz Petzold
Länge
93 Minuten
Kinostart
23.05.2024
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

„Echtzeit“-Dokumentarfilm über die Seenotrettung von 104 Menschen auf dem Mittelmeer, deren Schlauchboot bei der Flucht nach Europa unterzugehen droht.

Diskussion

Am 26. August 2019 rettete das privat gecharterte Rettungsboot der deutschen Hilfsorganisation „Mission Lifeline“ im Mittelmeer 104 Menschen vor dem Ertrinken. Diese waren mit einem blauen Schlauchboot von Libyen aus Richtung Italien unterwegs, als ihr völlig überfülltes Boot zunehmend Luft verlor und zu sinken drohte.

In die Medien schafften es Retter wie Gerettete jedoch erst eine gute Woche später, als sich der Kapitän Claus-Peter Reisch über das Verbot des italienischen Innenministers Matteo Salvini hinwegsetzte und in der sizilianischen Hafenstadt Pozzallo anlandete. Wie schon der Einsatz der „Sea-Watch 3“ unter ihrer Kapitänin Carola Rackete wurde die Aktion erst durch die Konfrontation mit den Behörden zum Ereignis, das für einen Tag lang dann die Hauptnachrichten dominierte. Was weiter geschah und auf dem Mittelmeer bis zum heutigen Tag geschieht, dass Menschen auf der Flucht elendiglich ertrinken und potenzielle Retter an ihrem Einsatz gehindert oder sogar kriminalisiert werden, bleibt außerhalb der Wahrnehmung.

Vier Preise beim DokFestival Leipzig

Der Dokumentarfilm „Einhundertvier“ kann diese Informationslücke nicht grundsätzlich beseitigen. Allerdings lassen die vier (!) Preise, mit denen der Film beim Dokfilm-Festival 2023 in Leipzig ausgezeichnet wurde, darunter auch als bester deutscher Film, aufhorchen; offensichtlich interessieren sich doch mehr Menschen für den Skandal des massenhaften Sterbens im Mittelmeer.

Der ungewöhnliche, weil nahezu in Echtzeit ablaufende Film verdankt sich den beiden Dokumentaristen Jonathan Schörnig und Adrian Then, die im Sommer 2019 mit an Bord der „Eleonore“ waren, wie der für den Seenoteinsatz umgerüstete holländischen Fischkutter getauft wurde. Mit insgesamt sechs Kameras hielten sie das Geschehen rund um die erste Rettungsaktion fest und schufen daraus einen singulären Film, der weitgehend auf Schnitte verzichtet.

In der ersten Einstellung sieht man den Bug eines Schnellbootes, das mit hoher Geschwindigkeit einem Punkt am Horizont entgegenjagt. Die Dünung und die Fahrtgeräusche dominieren das Bild, das nur einen kleinen Teil der Leinwand rechts oben füllt. Nach und nach kommen weitere Bildkacheln hinzu, die andere Aspekte des Geschehens einfangen, wobei zwei Kameras starr und zwei auf Helmen montiert sind, während zwei weitere von der Hand geführt werden. Insgesamt lassen sich so bis zu sechs parallele Perspektiven verfolgen, auf der Brücke der „Eleonore“, an Deck, auf dem Schnellboot und bei der Rettungsaktion.

Die Dramaturgie strukturiert den Erzählfluss, indem einzelne Bildausschnitte visuell oder auditiv ins Zentrum gerückt werden, oder auch schlicht dadurch, wie viele Perspektiven gerade zu sehen sind. Die „Handlung“ erschließt sich ausschließlich aus den O-Tönen, die viel von der Dramatik, der Anspannung und Hektik an Bord und auch dem Schnellboot vermitteln.

Man wird mitten hingeworfen in die Suche am 26. August, als die NGO „Alarmphone“ mehrere Boote in Seenot meldet. Als das blaue Schlauchboot mit den 104 Flüchtlingen entdeckt wird, beginnt ein nervenaufreibender Wettlauf gegen die Zeit, weil zuerst mehr Schwimmwesten vom Schiff herbeigeschafft werden müssen, und dann auch jeweils nur acht bis zehn Menschen mit zurücktransportiert werden können. Es braucht viel Geschick und klare Anweisungen, damit unter den Flüchtenden keine Panik aufkommt und das Boot nicht kentert. An Bord der „Eleonore“ knirscht es währenddessen ebenfalls, weil die Crew unerfahren ist und viele Handgriffe noch nicht sitzen. So geht es extrem lange Minuten hin und her, bis das inzwischen ziemlich schlappe Schlauchboot schließlich markiert und versenkt wird.

Der Zuschauer wird zum Regisseur

Parallel zu den letzten Transportfahrten kommt weitere Spannung auf, als sich ein mächtiges Boot der libyschen Küstenwache einmischt und die Rettungsaktion bedrängt. Durch den „Echtzeit“-Charakter der Aufnahmen erlebt man die Unsicherheit der Retter hautnah mit und ihren aufgebrachten Kapitän, der die Libyer in höchsten Tönen zur Änderung ihres aggressiven Verhaltens auffordert. Erst als alle Menschen an Bord der „Eleonore“ sind, ist die größte Gefahr gebannt und ein Anflug von Entspannung zu spüren. Gelassenheit und sogar Fröhlichkeit macht sich aber erst viel später breit, wenn die Libyer verschwunden sind.

Insgesamt dauert der Einsatz knapp 90 Minuten, fast die komplette Laufzeit des Films, wie am eingeblendeten Timecode stets mitabzulesen ist. „Einhundertvier“ vermittelt durch die Splitscreen-Ästhetik eine Fülle unterschiedlichster Informationen, Momente und Emotionen, die nicht unmittelbar aufeinander bezogen sind. Es liegt damit über weite Strecken am Betrachter, welche Bildkacheln er gerade verfolgt oder aufeinander bezieht, was jeden in gewisser Weise zum eigenen Regisseur dieses Films macht. Wie unvertraut eine solche selektive Rezeption ist, spürt man, wenn der Film am Ende die Kachel-Logik zugunsten einer einzigen leinwandfüllenden Einstellung aufgibt; da sieht man die Geretteten an Bord, wie sie mit der Besatzung gemeinsam Lieder singen – und spürt plötzlich wieder die identifikatorische Macht eines „herkömmlichen“ Kinofilms, da aus den atemlosen, mitunter aber auch „langweiligen“ Geschehnissen jetzt ein emotional ergreifendes Ereignis wird, bei dem Menschen unter Menschen sind, nicht 104 Gerettete bei ihren neun Rettern.

Kühle Planung und Logistik

Das schmälert allerdings keineswegs die Verdienste von „Einhundertvier“, der neben seiner „dokumentarischen“ Qualität als Augenzeuge unter anderem auch deutlich macht, wie sehr es neben Solidarität und Entschlossenheit auch nüchterner Planung und Logistik bedarf, um Menschenleben zu retten.

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