Im Angesicht der ETA: Interview mit einem Terroristen
Dokumentarfilm | Spanien 2023 | 101 Minuten
Regie: Marius Sánchez
Filmdaten
- Originaltitel
- NO ME LLAME TERNERA
- Produktionsland
- Spanien
- Produktionsjahr
- 2023
- Produktionsfirma
- Producciones del Barrio
- Regie
- Marius Sánchez · Jordi Évole
- Buch
- Adrià Attardi · Julia Badenes · Silvia Merino · Marius Sánchez · Jordi Évole
- Kamera
- Paco Amate
- Schnitt
- Mònica Jové
- Länge
- 101 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | JustWatch
Ein Dokumentarfilm über den Basken José Antonio Urrutikoetxea, einen ehemaligen Kopf der Terrororganisation ETA, der im Interview über seine Gewalttaten spricht.
Das Gespräch zwischen dem schmallippigen älteren Mann und dem deutlich jüngeren Journalisten ist nicht einfach. Aber dass es überhaupt stattfindet, ist eine Sensation. Denn der Ältere, José Antonio Urrutikoetxea, auch als Josu Ternera bekannt, war über Jahrzehnte in Spanien Staatsfeind Nummer eins, war geradezu die Personifizierung der baskischen Terrororganisation ETA.
Urrutikoetxea war seit deren Gründung dabei, verbrachte 12 Jahre in spanischen und französischen Gefängnissen und lebte 20 Jahre im Untergrund. Als Abgeordneter im baskischen Parlament vertrat er ab 1998 bis 2002 eine der ETA nahestehende Partei. Schließlich tauchte er wieder unter, weil neue Beweise gegen ihn auftaucht waren. Aus dem Untergrund heraus verkündete er 2018 schließlich die Selbstauflösung der ETA. 2019 wurde der heute 72-jährige Baske in Frankreich verhaftet und soll bald nach Spanien abgeschoben werden. Dort soll ihm der Prozess wegen des Anschlags auf eine Familienunterkunft der spanischen Zivilgarde gemacht werden, bei dem 1987 elf Menschen starben, darunter sechs Kinder.
Die Filmemacher Jordi Évole und Marius Sánchez hatten zuletzt einen Dokumentarfilm über Papst Franziskus gemacht („Amen: Ein Gespräch mit dem Papst“). Das Interview mit dem ETA-Terroristen, dem sich ihr neuer Dokumentarfilm widmet, war für sie auch ein Beitrag zum kollektiven Gedächtnis. Fünf Jahre nach dem Ende der ETA, sagt Évole, wüssten viele junge Leute heute nicht einmal mehr, wer Miguel Angel Blanco gewesen sei. Die Entführung und Ermordung des jungen Stadtrats durch die ETA hatte 1997 ganz Spanien erschüttert und sogar im Baskenland zu Massendemonstrationen gegen die Terrororganisation geführt. Auch Josu Urrutikoetxea hatte Interesse an dem Projekt, das ihm den Raum gibt, zu seiner Vergangenheit Stellung zu beziehen, steht doch seine Auslieferung nach Spanien und sein Prozess unmittelbar bevor. Vorab setzte es dafür auch Kritik: Als bekannt wurde, dass die Netflix-Dokumentation in San Sebastián uraufgeführt werden solle, forderten 500 Vertreter der spanischen Kultur und Politik das Festival auf, den Film aus dem Programm zu nehmen – der ETA dürfe keine Plattform gegeben werden. Allerdings hatte zu dem Zeitpunkt noch keiner der Protestierenden den Film gesehen, und die Festivalleitung ließ sich von dem Protest nicht beeinflussen.
Opfer und Täter
Der Vorwurf, die Terrororganisation zu verharmlosen, wiegt in Spanien schwer. Zwischen 1968 und 2010 wurden durch die ETA 862 Menschen umgebracht und 2661 verletzt, so zitiert der Film gleich im Vorspann die Angaben des spanischen Innenministeriums. Die Regisseure beziehen von Anfang an eine klare Position: Vor dem „Interview mit einem Terroristen“ und auch am Schluss lassen sie eines der zahlreichen ETA-Opfer zu Wort kommen. Francisco Ruíz Sánchez war Polizist in der kleinen baskischen Gemeinde Galdácano. Zu seinen Aufgaben gehörte auch der Schutz des Bürgermeisters.
Am 9. Februar 1976, knapp drei Monate nach Francos Tod, wurden sie von einem ETA-Kommando mit Maschinengewehren angegriffen. Der Bürgermeister starb sofort, Francisco Ruiz Sánchez wurde von 12 Kugeln getroffen. Als er nach fünf Monaten aus dem Krankenhaus kam, erlebte er die gesellschaftliche Ächtung in dem baskischen Dorf schmerzhafter als seine Verletzungen durch das Attentat und zog mit seiner Frau und seinen vier Töchtern zurück nach Südspanien.
Ein Leben zwischen Attentaten
José Antonio Urrutikoetxea war bei dem Attentat beteiligt und kommentiert später im Film nur kaltschnäuzig, der Bürgermeister sei noch vom Franco-Regime eingesetzt worden und trotz mehrerer Aufforderungen nicht zurückgetreten. Die Polizisten hätten um das Risiko gewusst, dass ihr Beruf mit sich bringt.
„Im Angesicht der ETA: Interview mit einem Terroristen“ erzählt mehr als 50 Jahre spanischer Geschichte. Im Gespräch wirkt José Antonio Urrutikoetxea abgeklärt, unberührt und mitunter unbeteiligt. Seine Argumentation und Körpersprache erinnern dabei fatal an die Ausweichmanöver der spanischen Rechten, wenn es um die Verbrechen der Franco-Diktatur geht: Es waren andere Zeiten, die Gegenseite habe mit der Gewalt angefangen und unschuldige Opfer bedauere man natürlich. Auch an den größten Verbrechen der ETA gibt es für Urrutikoetxea immer auch eine Mitschuld des Staates – hätte der etwa den Supermarkt Hipercor 1987 nach der telefonischen Warnung der Terroristen rechtzeitig evakuiert, hätte es auch keine Todesopfer gegeben.
Die Entführung und die Ermordung Miguel Angel Blancos verurteilt er mit der Distanz eines Trainers im Ruhestand, der nach Jahrzehnten die Fehler seiner Mannschaft kommentiert. Aber auch wenn es Jordi Évole nicht direkt gelingt, ihn aus der Reserve zu locken, hinterlässt der Film nie das Gefühl, hier würde der ETA-Terror relativiert oder gar gerechtfertigt – José Antonio Urrutikoetxeas distanziert-empathielose Art spricht durchaus für sich selbst. Und so ist „Im Angesicht der ETA: Interview mit einem Terroristen“ durchaus ein beeindruckendes journalistisches Dokument. Dass José Antonio Urrutikoetxea selbst nicht zufrieden mit dem Interview war, spricht für den Film.