Leave the World Behind
Drama | USA 2023 | 138 Minuten
Regie: Sam Esmail
Filmdaten
- Originaltitel
- LEAVE THE WORLD BEHIND
- Produktionsland
- USA
- Produktionsjahr
- 2023
- Produktionsfirma
- Esmail Corp./Higher Ground Prod./Netflix/Red Om Films
- Regie
- Sam Esmail
- Buch
- Sam Esmail
- Kamera
- Tod Campbell
- Musik
- Mac Quayle
- Schnitt
- Lisa Lassek
- Darsteller
- Julia Roberts (Amanda Sandford) · Mahershala Ali (G.H. Scott) · Ethan Hawke (Clay Sandford) · Myha'la Herrold (Ruth Scott) · Farrah Mackenzie (Rose Sandford)
- Länge
- 138 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Drama | Literaturverfilmung
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Während eines Wochenendtrips wird eine reiche New Yorker Familie in einem luxuriösen Strandhaus auf Long Island von einer schleichenden Katastrophe überrollt.
Ein Haus am Ende der Welt soll für Erholung vom stressigen Großstadtalltag sorgen. Mutter Amanda Sandford (Julia Roberts) bucht deshalb kurzerhand einen Wochenendtrip für sich und ihre Familie: Ehemann Clay (Ethan Hawke), Sohn Archie und Tochter Rosie. Dass für die New Yorker das Ende der Welt schon eine zweistündige Autofahrt entfernt liegt, ist ein Augenzwinkern zu Beginn des Films „Leave the World Behind“. Denn die Familie fährt lediglich in die Hamptons auf Long Island, das schicke Wochenend-Mekka der Snobs und Superreichen. Statt in einem minimalistischen Refugium steigen die vier in einem Luxus-Airbnb ab: ein modernes Designhaus unweit vom Strand, mit eigenem Pool und angrenzendem Wald. Ruhe ja, aber bitte mit Wlan und Satellitenfernsehen.
Kratzen an der Oberfläche der Zivilisation
„Leave the World Behind“ von Sam Esmail beginnt als Gesellschaftssatire. Grundlage ist der gleichnamige Roman des US-Schriftstellers Rumaan Alam, der in Deutschland als „Inmitten der Nacht“ erschienen ist. Esmail hat sich mit den Serien „Mr. Robot“ (2015-2019) und „Homecoming“ (2018-2020) als Spezialist für dystopische Sozialstudien im Psychothriller-Look etabliert, die an der Oberfläche der Zivilisation kratzen.
In „Homecoming“ spielte Julia Roberts eine Psychotherapeutin, die traumatisierten US-Soldaten bei der Rückkehr aus Afghanistan hilft und dabei einen Skandal aufdeckt. In „Leave the World Behind“ ist sie das Familienoberhaupt als dauergestresste Übermutter, die ihren gut bezahlten Marketing-Job leid ist und eine Auszeit braucht. Noch vor der Abreise äußert sie einen Satz, der dem Image der Schauspielerin als American Sweetheart so zuwiderläuft, dass er dem anfänglichen Augenzwinkern einen sarkastischen Unterton verleiht: „I fucking hate people – Ich hasse Menschen.“
Das Ende der Welt und andere Menschen holen die Sandfords trotzdem ein, schleichend, diffus und beunruhigend. Es beginnt bei einem Ausflug zum Strand. Tochter Rosie fragt als erste, ob der Öltanker, der wuchtig am Horizont steht, einfach nur so groß sei oder so nah. In Superzeitlupe scheint das Monstrum frontal auf den Badestrand zuzufahren. Doch Sonnenträgheit und die vermeintliche Sicherheit ihrer Luxus-Bubble hat die Sandfords schläfrig gemacht. Als der Tanker nach einer gefühlten Ewigkeit dann tatsächlich donnernd den Strand rammt, müssen sie um ihr Leben rennen. Eine Störung im Radar habe Schiffs- und Flugverkehr ins Chaos gestürzt, hören man einen Polizisten sagen.
Die Katastrophe naht in Zeitlupe
Esmail etabliert die Superzeitlupe dieser Szene als vorherrschendes Erzähltempo und entwickelt damit ein Szenario sich anbahnender Bedrohung, das an die Horrorfantasien von M. Night Shyamalan erinnert. Klar ist, dass eine Katastrophe heraufzieht. Deren Ausmaß lässt Esmail jedoch ebenso im Dunkeln wie sein filmisches Anliegen. Eine Cyberattacke? Ein Nuklearschlag oder eine Naturkatastrophe? Könnte alles sein. Auch die Tiere im Wald verhalten sich unruhig, der Handy-Empfang ist zusammengebrochen und die Straßen plötzlich wie leergefegt. Die Gesellschaftssatire kippt langsam in einen Überlebensthriller.
Amanda ist schon vom Vorfall am Strand alarmiert und verliert gänzlich die Contenance, als am ersten Abend plötzlich ein Fremder (Mahershala Ali) mit seiner Tochter vor der Tür steht. Die beiden tragen Abendgarderobe und stellen sich als George und Ruth vor. Amanda reagiert abweisend und glaubt George nicht, als der erklärt, dass er der Hausbesitzer sei, und sie ja schon schriftlich Kontakt gehabt hätten. Ein Blackout habe die Stadt ins Chaos gestürzt, weshalb er und Ruth um Unterschlupf für die Nacht bitten. Doch Amanda schaltet auf Abwehr. Sie sagt es nicht, aber druckst so deutlich um stereotypes Denken herum, dass alle es erraten: Wie kann ein Afroamerikaner so reich sein, dass er sich ein solches Luxusanwesen leisten kann? Ist es nicht wahrscheinlicher, dass er und Ruth sie übers Ohr hauen wollen?
Amanda entpuppt sich schon früh als Verkörperung eines Menschentypus, der in den USA unter der Bezeichnung „Karen“ firmiert. Deren Welt dreht sich ausschließlich um sich selbst; andere werden mit einem einzigen Blick abgekanzelt – rassistisch, klassistisch, sexistisch oder nach anderen -ismen, mit der sie als Vertreterin der weißen Besserverdiener ihre anmaßende, selbstgerechte und privilegierte Anspruchshaltung vor sich herträgt. Ehemann Clay glaubt George und Ruth zwar und lässt sie herein, doch Amandas Zweifel haben alle verunsichert. Vielleicht handelt es sich bei „Leave the World Behind“ ja um einen Home-Invasion-Thriller, und aus der abstrakten globalen Bedrohung wird eine konkret-persönliche?
Ein gesellschaftsdystopisches Kammerspiel
Die Inszenierung spielt mit dem begrenzten Wissen der Figuren und den emotionalen Überinterpretationen, die sie den wenigen gesicherten Informationsbrocken zuschreiben. Die diffusen, vielfältigen Ängste der Gegenwart gießt der Film auf diese Weise in ein gesellschaftsdystopisches Kammerspiel. Dabei geht es weniger um die genauen Mechanismen der Katastrophe als vielmehr um die Verhaltensweisen der Menschen, die sie erfahren. „Leave the World Behind“ betreibt eine Art Verhaltensforschung und handelt davon, wie Vorurteile und Argwohn menschliche Reaktionen auf Katastrophen beeinflussen und Spaltung verursachen, statt untereinander zu verbinden.
Auf diese Weise verschiebt sich mit dem subjektiven Fokus der Figuren auch immer wieder die filmische Perspektive. Visuelle Anleihen reichen von „Der unsichtbare Dritte“ und „Der weiße Hai“ bis zu „Old“ und den Titelsequenzen, die Saul Bass für viele Filmklassiker schuf, wobei sie auch dramaturgisch auf den Film übergreifen. Tochter Rosie ist ein Fan der Sitcom „Friends“ und brennt darauf zu erfahren, wie die Serie für das Liebespaar Ross und Rachel ausgeht. Ein Happy End am Ende der Welt scheint aus ihrer Perspektive immer noch möglich.