Kein Tier. So Wild.
Drama | Deutschland/Frankreich/Polen 2024 | 142 Minuten
Regie: Burhan Qurbani
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland/Frankreich/Polen
- Produktionsjahr
- 2024
- Produktionsfirma
- Sommerhaus Filmproduktion
- Regie
- Burhan Qurbani
- Buch
- Enis Maci · Burhan Qurbani
- Kamera
- Yoshi Heimrath
- Musik
- Dascha Dauenhauer
- Darsteller
- Kenda Hmeidan (Rashida York) · Verena Altenberger (Elisabet ) · Hiam Abbass (Mishal ) · Mona Zarreh Hoshyari Khan · Mehdi Nebbou
- Länge
- 142 Minuten
- Kinostart
- 08.05.2025
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama | Gangsterfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Explosive Adaption des Shakespeare-Drama „Richard III.“, die in Berlin unter zwei rivalisierenden Clans spielt.
Die Kinder in der Wüste spielen Richard III. Ein Mädchen will sich die selbst gebastelte Krone aufsetzen, drei weitere zerren an ihr und fliehen mit den Stücken, die sie abreißen können. Rashida, das Mädchen mit der Krone, bleibt zurück. Sie sieht das Dorf und die anderen Mädchen in den Flammen eines Bombenangriffs verbrennen.
Shakespeare und der Krieg werden in Berlin fortgesetzt. Die erwachsene Rashida (Kenda Hmeidan) ist auch hier Richard. Wie Shakespeares Herzog von Gloucester auf der Bühne spricht sie direkt zum Publikum. Sie beginnt nicht mit dem Winter unseres Missvergnügens und ihrem Plan zur Ergreifung der Macht. Sie tritt als Anwältin auf und redet von der Freiheit. Sie greift nach der Deutungshoheit ihrer eigenen Geschichte, die dort beginnt, wo ihr Heimatdorf in einem Feuerball aufgeht und heute, als Migrationsgeschichte, von denen geschrieben wird, die ihr Schicksal bestimmen wollen.
Gemeint sind damit nicht die Behörden oder gar die Mehrheitsgesellschaft. Die Migrat:innen-Geschichte und Shakespeare finden auch in Burhan Qurbanis Adaption zwischen den Familien York und Lancaster statt, zwei Clan-Familien.
Nie Wahrheit, aber auch nicht Lüge
Die Faszination des Schurken Richard III, der hier Rashida geworden ist, liegt auch in „Kein Tier. So wild“ in der Doppelzüngigkeit, mit der er/sie sich selbst (und damit auch uns) eine Wahrheit einredet, seinen Zeitgenossen aber eine andere und sich selbst die Opferrolle zugedenkt, die nie Wahrheit, aber auch nie wirklich Lüge ist. Qurbani und Co-Autorin Enis Maci zwängen hier nicht einfach Shakespeare in die Migrationsdiskursschablone; sie finden im Berliner Clan-Milieu nicht nur ein kongeniales Pendant zu den englischen Rosenkriegen, wie Shakespeare sie überliefert hat; sie finden auch die Einsamkeit und den Hass Richards in diesem Milieu.
Die Clans von York und Lancaster leben in ihrer eigenen Welt. Eigentlich liegt die in Berlin, aber die Hauptstadt hat nichts von Heimat oder Vaterland und repräsentiert schon gar nicht die Mehrheitsgesellschaft. Berlin ist hier die mit Opulenz zugestellte kriminelle Unterwelt: schwarze Edelkarren, glänzender Opal, mit Gold überzogenes Schwarz; alles organisiert entlang der Maxime: Gott, Sippe, Frau und dann der Rest. Und zugleich immer auch – darüber kann kein Luxus hinwegtäuschen – ein Kriegsschauplatz.
Abgerutscht in den Untergrund
„Kein Tier. So Wild.“ ist eine gänzlich (und das meint eben auch: ästhetisch) in den vergoldeten Underground abgerutschte Tragödie. Das fällt zunächst in der Sprache auf, die Rashida wie Richard monologisieren lässt, bevor sie ihr Gegenüber im nächsten Satz „Fotze“ nennt. Der Film ist weniger mit betonter Reibung inszeniert denn vielmehr als natürlicher Fortsatz von Rashidas Abscheu. Wie ihr historisches Vorbild bzw. die Figur, die Shakespeare daraus machte, ist Rashida ein Körper zweiter Klasse. Nicht weil sie ein Krüppel, sondern weil sie eine Frau ist. Diese von Kenda Hmeidan nicht körperlich deformierte, sich aber dennoch immer seltsam und lauernd um ihre Feinde in der Familie windende Frau beherrscht den Film. Sie ist gewissermaßen eine entfernte Verwandte des elektrisierenden Mephisto-Verschnitts, den Albrecht Schuch als Reinhold in Qurbanis „Berlin, Alexanderplatz“ spielte.
Auch Kenda Hmeidan spielt so fantastisch mit der Kamera von Yoshi Heimrath, wie sie von der Kamera selbst umspielt wird. Doch Rashida ist nicht nur Dämonin, nicht nur ein mit Intrigen und tatkräftiger Unterstützung ihrer ehemaligen Amme Mishal (Hiam Abbass spielt hier ebenfalls die Sterne vom Himmel) mordender Machtmensch. Sie ist die Verlorene, die sich nimmt, was ihr dem herrschenden Geburtsrecht nach nicht zusteht. Die dem Publikum beschwörend zu verstehen gibt, sie sei kein Tier, nicht unser Gegenteil, während sie ihre Familie vernichtet.
Alle Widersprüche von Shakespeare, alle Widersprüche aus Kriegs-, Flucht-, Gewalt- und Machterfahrung pressen sich in diese Figur, die gar nicht anders kann als auf der Leinwand zu brennen und zu explodieren, bis alles um sie herum mit ihr zusammen vernichtet ist. Mit dem Tod der Clan-Oberhäupter verwandelt sich die funkelnde Unterwelt sukzessive in die Wüste der Heimat, die in der Eröffnungsszene vor den Augen der jungen Rashida in Flammen aufging. Eine Welt, deren neue Freiheit keine Moscheen aus den aus Mekka importierten Steinen baut, sondern Malls. Eine Welt, die zwischen Bomben, Brudermord und Kapital immer nur ihren eigenen Schmerz findet.