Tod den Lebenden
Drama | Deutschland 2023 | 175 (sechs Folgen) Minuten
Regie: Tom Lass
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2023
- Produktionsfirma
- Anderthalb Medienproduktion
- Regie
- Tom Lass
- Buch
- Tom Lass · Lia von Blarer
- Kamera
- Carmen Treichl · Johannes Louis · Jieun Yi · Lotta Kilian · Marvin Kipke
- Musik
- Leonard Petersen
- Schnitt
- Till Ufer
- Darsteller
- Odine Johne (Heidi) · Julius Feldmeier (Juklas) · Kristin Suckow (Becky) · Lea van Acken (Akki) · Leon Ullrich (Micha)
- Länge
- 175 (sechs Folgen) Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama | Serie
- Externe Links
- IMDb
Sechsteilige improvisierte Serie über eine polyamouröse Wohngemeinschaft, die mit absurdem Humor aberwitzige Szenen generiert.
Eigentlich ganz einfach: Alle teilen alles – Bett, Bad und Bankkonto. Der schlaksige Juklas, die dominante Heidi und die nach eigenen Aussagen dumme Becky führen eine offene Beziehung und es gibt nur eine Regel: Niemand trennt sich. Das verstehen die Neuzugänge in der polyamourösen WG sehr schnell. Heimliche Besitzansprüche und Hierarchien lauern aber bei genauerem Hinsehen hinter jeder Ecke: Heidi und Juklas wollen ein Kind, aber Heidi will nicht dick werden, deshalb soll Becky als Leihmutter herhalten. Becky bringt ihren Flirt Micha mit nachhause, darf ihn aber nicht für sich behalten, sondern muss ihn teilen. Und die junge Akki stellt irgendwann fest, dass sie nur eingeladen wurde, weil ihr Vater der Vermieter der WG ist und wegen Ruhestörung mit Wohnungskündigung droht. „Oder willst du beim Sex leiser sein, Becky?“, blafft Heidi, als diese Bedenken äußert, weil Heidi und Juklas den Vermieter mit Akki erpressen wollen. Nein, wolle sie nicht. „Eben.“
Ungeschliffen wie das Leben
Die Webserie „Tod den Lebenden“ beginnt mitten im Beziehungschaos der WG und ist so ungeschliffen wie das Leben eben selbst: Emotionale Gespräche über Persönlichkeitsentwürfe und weltumspannende Themen sind durchzogen von Jump-Cuts, die Dialoge absichtlich nicht ausgefeilt und pointiert wie auf dem Theater, sondern durchzogen von neuem Ansetzen, Umformulierungen und Umkreisungen der eigenen Gedanken. In diesen Zusammenschnitten spiegeln sich innerhalb weniger Sekunden diverse Lebensentwürfe und Diskurse, die das Kollektiv beschäftigen – Patriarchat, Kapitalismus, Klimakrise. Auf deren teils gegenläufige Interessen und Widersprüche weiß es oft auch keine Antworten, ist aber lieber ahnungslos als tatenlos, wenn Privates und Politisches nicht mehr ganz voneinander zu trennen scheinen.
Juklas etwa bietet einer neuen Anwärterin eine Umarmung an, aber natürlich nur, wenn sie das wolle. Einvernehmlichkeit muss sein, versichert sein Blick. Was die Gruppe denn konkret mache, fragt die junge Frau. „Das hat viel mit Liebe zu tun und im Endeffekt geht’s um Gewalt.“ Wieso denn Gewalt? Man wolle doch einer Person, die man liebt, keine Gewalt antun, runzelt sie die Stirn. „Ja, aber du willst nicht, dass dieser Person Gewalt angetan wird“, insistiert Juklas. Sie nickt verwirrt. „Genau. Jetzt hast du’s verstanden.“ Logisch ist das natürlich nicht, denn Juklas kaschiert seine eigene Unwissenheit, indem er der Neuen die Worte im Munde umdreht. Seine Pose ist dabei die des klassischen Mansplainers, eines Mannes, der einer Frau die Welt erklärt.
Schräge Ironie mit Wahrhaftigkeit
Der Witz der Szene geht auf seine Kosten, ohne ihn bloßzustellen – ein schauspielerischer Drahtseilakt, den Hannah Schiller und Julius Feldmeier zu einem schwerelosen Stepptanz-Duett machen. „Tod den Lebenden“ ist voll solcher Szenen, voll von schräger Ironie, die trotzdem Wahrhaftigkeit zulässt. Das macht diese schluffigen und manchmal auch unangenehm egozentrischen Figuren nahbar und verständlich und produziert tiefgründige Einblicke in die Seelen der Generation Y, die gerne als faul und ichbezogen abgetan wird.
In Szenen wie dieser zahlt sich die für das deutsche Fernsehen ungewöhnliche Arbeitsweise von Filmemacher Tom Lass aus. Der Schauspieler und Regisseur leitet seit mehreren Jahren eine Impro-Gruppe und entwickelt auch seine Filme immer ohne festes Drehbuch, dafür mithilfe von Improvisationstechniken, etwa seinen ersten Langspielfilm „Papa Gold“ (2011) oder die Tragikomödie „Blind & Hässlich“ (2017). Nicht nur widerspricht die Serie visuell und dramaturgisch gängigen Fernsehgewohnheiten, sondern ist auch jenseits der klassischen Finanzierungswege entstanden. Tom Lass hat sie ohne Drittmittel entwickelt, die ARD kam erst an Bord, als bereits ein Teil gedreht war.
Eine kleine Revolution
Das hat Lass und seinem Team maximale künstlerische Freiheit beschert – ein Wagnis, doch welch ein Glück, dass Tom Lass und sein Team es eingegangen sind! Das muss man so deutlich hinschreiben, denn dass „Tod den Lebenden“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen einen Platz gefunden hat, ist nicht nur eine Wohltat, sondern kommt einer kleinen Revolution gleich, weil sie eben beweist: Independent-Fernsehen ist im Jahr 2023 nicht nur möglich, sondern unbedingt notwendig.
Auch für „Tod den Lebenden“ erarbeitete Lass Figuren und Handlung in mehrwöchigen Proben gemeinsam mit seinem Ensemble und nennt deshalb die Darstellerinnen und Darsteller im Abspann als Writers’ Room: Odine Johne, Julius Feldmeier, Kristin Suckow und Lea van Acken, die auch als Kern-WG zu sehen sind, ebenso Co-Autorin Lia von Blarer und Editor Till Ufer, die maßgeblich an der Dramaturgie beteiligt waren. Die emotionale Dichte und der krude Humor sind sicherlich dieser Teamarbeit zu verdanken – sie sind das Herz der Serie.
Feldzug gegen die Klimakrise
Aus der improvisierten Stoffentwicklung nämlich sind objektiv betrachtet teils hanebüchene Handlungsstränge entstanden, die jedoch emotional und atmosphärisch ineinandergreifen: Neben dem Versuch einer Leihmutterschaft und der Erpressung des Vermieters mit einem Sex-Tape bekommt Heidi eine von Feinstaub ausgelöste Lungenkrankheit, weswegen die gesamte WG einen Feldzug gegen die Klimakrise anstrengt. Wer ist dafür verantwortlich und könnte man gewaltsamen Protest als Selbstverteidigung auslegen? Die Gruppe wird beim ortsansässigen Polizeipräsidenten vorstellig, der überhaupt nicht versteht, was sie von ihm will. Auch hier blitzt immer wieder absurder Humor angesichts aktueller Diskurse durch, ohne die eine oder andere Seite zu verunglimpfen.
Tom Lass hält lediglich bei allen Themen, die seine WG beschäftigen, Selbstverständnis und Außenwahrnehmung gegeneinander, das ist seine Stärke. Er zeigt die vielen kleinen und großen Brüche auf, die beide Perspektiven voneinander trennen. „Wenn ich in einem Jahr sterbe, will ich wenigstens was hinterlassen, damit die nächsten Generationen nicht so verfickt aussterben wie ich“, wütet Heidi einmal, als Juklas nicht sagen kann, ob er nach ihrem Tod ihr Grab besuchen würde. „Ich liebe dich“, kann er nur sagen. „Dann mach was!“ Folgerichtig also, dass plötzlich alle Waffen in der Hand haben und zu Westernmusik gegen die Klimakrise anschießen.