Die toten Vögel sind oben

Dokumentarfilm | Deutschland 2022 | 86 Minuten

Regie: Sönje Storm

Im Nachlass des Bauern Friedrich Mahrt (1882-1940) aus Schleswig-Holstein finden sich Kisten voller präparierter Schmetterlinge, Vögel und Käfer sowie Berge sorgfältig kolorierter Fotografien. Seine private Sammlung dokumentiert heute kaum noch existierende Naturräume: uralte Wälder, verwunschene Moore, ausgestorbene Tierarten. Der Film lässt den Nachlass des stillen Exzentrikers von Fachkundigen analysieren, interessiert sich aber auch dafür, was mit den Exponaten im digitalen Zeitalter geschieht. Neben den historischen Zeugnissen einer verlorenen Welt geht es um grundsätzliche Herausforderungen der Naturforschung und wie zwischen dem Verlust an Biodiversität und einer ökologischen Korrektur eine neue Balance gefunden werden kann. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Stormfilm Prod.
Regie
Sönje Storm
Buch
Sönje Storm
Kamera
Alexander Gherorghiu
Musik
Dominik Eulberg · Bertram Denzel · Henry Reyels
Schnitt
Halina Daugird
Länge
86 Minuten
Kinostart
31.08.2023
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Vielschichtiger Dokumentarfilm über den Nachlass des Bauern Friedrich Mahrt (1882-1940) aus Schleswig-Holstein, der die Flora und Fauna einer längst vergangenen Welt gesammelt, gemalt und fotografiert hat.

Diskussion

Naturbegeisterung, die sich in Sammelleidenschaft ausdrückt: Das mag man für eine Paradoxie halten. In der Tat verwandelt sich das organische, wild wuchernde Durcheinander und Ineinander von Tier, Pflanze und Pilz, wenn Friedrich Mahrt es in die Finger bekommt, in säuberlich voneinander getrennte Reihen und Serien, in Kategorisierungssysteme und Schaukastendrapierung. Manchmal wird die Natur von Mahrt regelrecht aufgespießt, etwa in Form der Schmetterlinge, die er mit viel Ausdauer sammelt und konserviert. Oder sie wird ausgestopft, mithilfe von inzwischen nicht mehr gebräuchlichen Techniken, die dafür sorgen, dass viele seiner Präparate auch heute noch, ein knappes Jahrhundert nach ihrer Entstehung, gut erhalten sind.

Mahrt, 1882 in Schleswig-Holstein geboren, war zuerst Bauer, auf seinem eigenen, seit Generationen in der Familie befindlichen Hof. Wann immer er jedoch ein paar Minuten oder besser Stunden, wenn nicht gar Tage oder Wochen entbehren konnte, wandte er der Feldarbeit den Rücken und machte sich auf in die umliegenden Wälder und Moore.

Ein Museum unterm Dach

Sein Faible für Naturbeobachtungen wuchs sich nach und nach zu einer regelrechten Obsession aus. Wurden die Beobachtungen zunächst nur in Tagebucheintragungen niedergelegt, widmete er sich später der Tier- und auch Reisefotografie, der Erschließung des Tier- und Pflanzenreichs, der Sammlung und Bewahrung von Tierkadavern. In den 1930er-Jahren richtete er auf dem Dachboden des Familienanwesens sogar ein Privatmuseum ein. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete er bereits nicht mehr als Bauer; die Leitung des Hofs hatte er längst an seinen Sohn abgegeben.

Wenn sich einer dermaßen in etwas, das seinem eigenen Leben zunächst äußerlich ist, vertieft, dann macht ihn das in den Augen der Allgemeinheit verdächtig. Auch im Falle Mahrts könnte der erste Reflex lauten: Der spinnt doch. Und: Seine arme Familie, die werden aber unter seinem Tierfimmel gelitten haben. Doch weit gefehlt.

Das Bild, das der Dokumentarfilm „Die toten Vögel sind oben“ von Mahrt zeichnet, ist das eines zwar stillen und ein wenig geheimnisvollen, vielleicht auch letztlich unnahbaren Mannes, der jedoch gleichzeitig seine Familie liebte und auch von ihr geliebt wurde. Seine Frau unterstützte ihn in seiner Naturleidenschaft; selbst als er für die Anschaffung teurer Kameratechnik Teile des familieneigenen Ackerlands verkaufte, hielt sie zu ihm; im Privatmuseum war sie als Führerin tätig.

Ein Akt der Liebe

Auch der Film selbst ist ein Akt der Liebe: Die Regisseurin Sönje Storm ist Mahrts Urenkelin. Persönlich kennengelernt hat sie ihren 1940 verstorbenen Vorfahren nicht, aber die in der Familie kursierenden Geschichten bilden einen zentralen Ausgangspunkt ihres Filmprojekts.

Den anderen, noch wichtigeren Anker, bildet Mahrts Sammlung selbst. Denn vieles, sehr vieles von dem, was Mahrt über Jahrzehnte hinweg zusammengetragen hat, existiert noch. Ausgestopfte Vögel, Schmetterlingskästen, Naturtagebücher – und vor allem jede Menge Fotos. Letztere nehmen viel Raum im Film ein, wie ihre Herstellung vermutlich auch viel Raum im Leben von Friedrich Mahrt eingenommen hatte. Die Bilder zeugen durchweg von einem außergewöhnlichen Sinn für Bildgestaltung und für die visuelle Macht auch vermeintlich simpelster visueller Motive, etwa Vogeleier oder Gruppen von Pilzen. Besonders spektakulär sind eine Reihe von Fotografien, die ausgestopfte Vögel, lebensecht arrangiert, in ihrem vormaligen natürlichen Habitat zeigen.

Wenn die Fotografie immer gleichzeitig Mumifizierung gelebter Zeit und Verlebendigung von Vergangenheit ist, dann drückt sich in der sanft irritierenden, morbiden Schönheit dieser Bilder die paradoxe Zeitlichkeit des Mediums besonders eindrücklich aus. Nicht zu vergessen: die Farben. Mit Engelsgeduld und jeder Menge Geschick hat Mahrt viele seiner ursprünglich schwarz-weißen Aufnahmen koloriert, mithilfe sogenannter Einhaarpinsel, die genau das können, was der Name verspricht: haardünne Linien malen, die sich zu einer feinen, differenzierten Farbigkeit und einer Form des überhöhten Realismus summieren, die an den klassischen Technicolor-Farbfilm erinnert.

Infos über die Kunst der Gegenwart

Neugierig und geduldig blickt Storm auf diese Aufnahmen aus dem Archiv, ohne dabei je den historischen Abstand zu vergessen; nicht jedes Bild verrät sein Geheimnis auf den ersten Blick. Tatsächlich blättert „Die toten Vögel sind oben“ nicht einfach nur in alten Fotoalben; ebenso sehr wie für die Motive interessiert sich der Film dafür, was mit den Bildern heute, in der Gegenwart geschieht. Zum Beispiel, wenn sie digitalisiert und auf Museumswebsites zugänglich gemacht werden. Und wenn selbst im Kino ansonsten unsichtbare Arbeitsschritte wie die digitale Farbkorrektur mitgefilmt werden, wird „Die toten Vögel sind oben“ zu einem Film über die visuelle Kultur unserer eigenen Zeit.

Neben Storms eigenem, in angenehm ruhiger, bedachter Sprache formuliertem Voice-Over kommen auch Experten aus dem Wissenschafts- und Museumsbereich zu Wort; sie sprechen über den Wert der Mahrt-Exponate als historisches Zeugnis, aber auch über die Herausforderungen, denen sich die Naturforscher dieser Tage zu stellen haben. Beides hängt miteinander zusammen. Ein Schmetterlingsexperte meint, als er sich über einen der alten Schaukästen beugt: „Den gibt es hier nicht mehr, den auch nicht, den auch nicht, den nur noch an einem Fundort.“ Der durch die Umformung von Natur- in Kulturraum ausgelöste und durch den Klimawandel beschleunigte Rückgang der Artenvielfalt ist ein konstantes Begleitthema des Films.

Der Natur zugewandt

Auch die Entwässerung der Moore in weiten Teilen Norddeutschlands gehört in diesen Zusammenhang. Der Verlust an Biodiversität, den die Praxis mit sich bringt, ist zu weiten Teilen irreversibel; gleichzeitig ermöglicht sie in vielen Gegenden erst jene landwirtschaftliche Bewirtschaftung, der Bauern wie Mahrt ihre Lebensgrundlage verdanken. Wie und ob ein neues Gleichgewicht gefunden werden kann, bleibt am Ende des Films naturgemäß offen. Wenn überhaupt, so wird es nur, ahnt man, mithilfe jener Art rationaler, unbedingter Naturzugewandtheit gelingen, der Friedrich Mahrt sein Leben widmete.

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