Erst sieht es so aus, als würde Christian Petzold an den im Mythos verankerten Vorgängerfilm „Undine“ anknüpfen, wenn er seinen zehnten Kinofilm „Roter Himmel“ eher düster anstimmt. Zwei Freunde fahren auf einer Landstraße durch den Wald, als ihr Auto liegenbleibt. Ohne große Bedenken macht sich Felix (Langston Uibel) zu Fuß mit dem Gepäck auf; er wisse den Weg schon ungefähr. Es ist das Ferienhaus seiner Eltern an der Ostsee, zu dem er mit seinem mürrischen Kumpel Leon (Thomas Schubert) unterwegs ist. Leon hockt nun allein im Wald. Es wird dunkel. Unheimliche Geräusche bedrängen ihn. Helikopterlärm signalisiert den katastrophalen Waldbrand, der dem Film einen dystopischen Rahmen gibt.
Petzold bindet die Zuschauer an Leons Wahrnehmung; von Beginn an wird die Geschichte konsequent aus dessen Perspektive erzählt. Es stellt sich heraus, dass die Freunde das Haus mit zwei anderen jungen Leuten teilen müssen, wovon Felix nichts wusste, was ihn aber nicht weiter stört. Leons Nervosität aber steigert sich dadurch noch: Er sei ja nicht zum Zeitvertreib an die Ostsee gefahren. Der Jungschriftsteller will hier seinen zweiten Roman vollenden. Demnächst reist sein Verleger an, um das Manuskript mit ihm zu besprechen. Felix hingegen freundet sich schnell mit den vermeintlichen Störenfrieden an – dem durchtrainierten Rettungsschwimmer Devid (Enno Trebs) und der vor allem für Leon uneingestanden attraktiven Nadja (Paula Beer).
Ein Heine-Gedicht bei Tisch
Stück für Stück öffnet sich der filmische Raum hin zum Meer. Wie in „Pauline am Strand“ und anderen Filmen von Éric Rohmer sind Stimmung und Gespräche heiter. Der Verleger Helmut (Matthias Brandt), den Leon mit devoter Freundlichkeit empfängt, entpuppt sich als das Gegenteil einer respektheischenden Vaterfigur. Mit seinem Roman „Club Sandwich“ kann Leon bei Helmut wie befürchtet nicht punkten. „Das nächste Buch wird besser!“, lautet die scheinbar vernichtende Kritik des Mentors. Beim gemeinsamen Essen im Garten gewinnt der zunehmend übellaunige Leon den Eindruck, dass sein Verleger allen außer ihm zugetan ist. Devid entpuppt sich als raffinierterer Geschichtenerzähler und flirtet mit Felix. Helmut unterstützt Felix mit Anregungen für dessen Fotoprojekt, das Bestandteil seiner Bewerbungsmappe für die Kunsthochschule werden soll.
In seiner Egozentrik hat Leon vor allem auch Nadja unterschätzt: Sie ist Literaturwissenschaftlerin und rezitiert für die Tischgesellschaft Heinrich Heines Gedicht „Der Asra“ über den jungen Sklaven, der angesichts der „wunderschönen Sultanstochter“, die sich jeden Abend am Springbrunnen zeigt, immer „bleich und bleicher“ wird. Warum? Er heiße Mohamet, erklärt der Sklave im Gedicht. „Und mein Stamm sind jene Asra/Welche sterben wenn sie lieben.“
Das Heine-Zitat lässt sich nicht auf den Punkt bringen – und entspricht damit der Vielschichtigkeit, Dialektik und Lakonie von „Roter Himmel“. Klar ist: Die Lebenszeit ist begrenzt, Liebe und Begehren entziehen sich der Kontrolle. Leons Ichbezogenheit und sein verbissener Hang zum Funktionieren-Wollen reiben sich heftig mit der Verbummeltheit der restlichen Hausgemeinschaft, die letztlich produktiver ist als das verspannt-geschäftige Gebahren des gestressten Protagonisten.
Sirenen heulen, Asche regnet herab
Am Horizont zieht Unheil herauf. Unübersehbar hat Petzold als Drehbuchautor die Klimakatastrophe und das Artensterben mitgedacht. Eine Wildschweinfamilie rennt einmal vor dem Brand davon. Ein Frischling hat schon Feuer gefangen und verendet vor Leons Augen. Sirenen heulen, Asche regnet herab, der Waldbrand wird zur handfesten Bedrohung der kleinen Gemeinschaft.
„Roter Himmel“ ist dennoch kein dystopischer Film. Die Katastrophe wird von Petzold eher als Fußnote behandelt, wenn er im Moment des dramatischen Umschlags auf Distanz geht. Ein Liebespaar stirbt. Doch statt auf dieses Paar blendet Petzold ein anderes ein. Er schneidet aufs Bild der engumschlungenen Liebenden aus Pompeji, die vom Ausbruch des Vesuvs im Jahr 78 nach Christus überrascht und Jahrhunderte später ausgegraben wurden. Roberto Rossellini baute das versteinerte Paar schon in „Liebe ist stärker“ (1954) ein, wo der Anblick einen Weinkrampf Ingrid Bergmans provozierte.
„Carpe diem“ könnte das Motto des locker erzählten, hinreißend gespielten und souverän-spannungsreich inszenierten Films sein. „Nutze den Tag“ würde Leon sagen. Der lateinische Spruch lässt sich aber auch so übersetzen: „Genieße den Tag“ – und genau diese Haltung spricht aus „Roter Himmel“.