Auf der Suche nach Fritz Kann
Dokumentarfilm | Deutschland 2022 | 100 Minuten
Regie: Marcel Kolvenbach
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2022
- Produktionsfirma
- Publicnomad Prod.
- Regie
- Marcel Kolvenbach
- Buch
- Marcel Kolvenbach
- Kamera
- Katja Rivas Pinzon · Marcel Kolvenbach
- Musik
- Cassis Birgit Staudt
- Schnitt
- Maria Linden
- Länge
- 100 Minuten
- Kinostart
- 12.01.2023
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- TMDB
Dokumentarfilm, in dem sich der Regisseur Marcel Kolvenbach auf die Suche nach dem ersten Mann seiner Großmutter begibt, einem Juden, der von den Nazis ermordet wurde.
Dies ist die Geschichte eines Mannes, dessen Existenz lange totgeschwiegen wurde, dessen tragische Biografie aber die Kraft besitzt, Familien- und Zeitgeschichte aufzurollen. In der Familie des Regisseurs Marcel Kolvenbach war der Name „Fritz Kann“ nicht existent. Es gab keinerlei Zeugnisse oder Spuren von ihm, weder Briefe noch Fotos, und das, obwohl – oder weil – er der erste Ehemann der Großmutter des Filmemachers war. Zufällig stieß Kolvenbach dann auf eine Unterschrift von Fritz Kann in einem Familiendokument. Es kamen Fragen auf, deren Beantwortung er selbst übernehmen musste.
Fritz Kann war Jude, Vater zweier Kinder – der Halbbrüder von Kolvenbachs Vater – und wurde unter Umständen, die heute niemand mehr nachvollziehen kann, von der Großmutter geschieden. Durch die Scheidung war Kann schutzlos der Vernichtungsmaschinerie der Nazis ausgeliefert und wurde im April 1942 von Düsseldorf in ein Sammellager in Polen deportiert, wo sich seine Spur verliert.
Eine schicksalhafte Verbindung
Die Suche nach Kann lässt den Regisseur private und offizielle Dokumente entdecken, die etwas über die psychischen Spuren von Verdrängung aussagen wie auch über die akribische Vorgehensweise der Nationalsozialisten bei der Durchführung des Holocaust. Ironischerweise liefert die NS-Bürokratie Historikern heute Informationen über Deportation und Vernichtung der Juden und trägt so zu Geschichtsaufarbeitung bei.
Kanns Sohn Horst trat nach dem Krieg die Flucht in die weite Welt an, die er anscheinend als Mitglied der französischen Fremdenlegion erkundete. Er schrieb der Familie jahrelang ausführliche Briefe über ferne Länder, die er seiner Heimat, die ihm den Vater geraubt hatte, ganz offensichtlich vorzog. Nur einmal erwähnt Horst indirekt Fritz Kann, als er sich nach einer Wiedergutmachung für sich und seinen Bruder erkundigt.
Auch seinen eigenen Vater bindet Kolvenbach in die Recherche ein. Dieser trauerte seinem großen Bruder stets nach und litt unter seinem eigenen Vater, dem zweiten Mann seiner Mutter, einem prügelnden Familientyrannen. Doch war jener tatsächlich der biologische Großvater Kolvenbachs? Da Kolvenbachs Vater genau neun Monate nach der Deportation von Kann geboren wurde, besteht eine rechnerische Möglichkeit, dass er der biologische Großvater des Autors sein könnte. Doch die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering, und alle Beteiligten lassen in Zeiten, wo ein DNA-Test Aufschluss über Herkunft geben kann, lieber den Zweifel regieren. Wie man es auch wendet: Der Autor verdankt sein Leben Fritz Kann. Entweder, weil er mit ihm verwandt ist oder weil die Großmutter nach der Scheidung den biologischen Vater von Kolvenbachs Vater kennenlernte.
Ein rastlos Suchender
Die ausführlichen Recherchen lassen Regisseur wie Zuschauer wichtige historische Erkenntnisse gewinnen. Kolvenbach, der als Reporter und Auslandskorrespondent arbeitete, gestaltet den Film als Reise: Bilder on the road, die durch die verregnete Windschutzscheibe eines Autos gefilmt werden und an Wim Wenders erinnern. Dabei inszeniert Kolvenbach sich selbst auch als rastlosen Suchenden und will dabei offenbar seinen persönlichen Bezug zu Kann herstellen. Andererseits lenken diese Sequenzen zuweilen vom eigentlichen Sujet ab, ebenso wie choreographierte Szenen der Tänzerin Reut Shemesh, in denen mit vier Darstellern sehr symbolisch die gewaltsame Trennung einer Familie nachgestellt wird.
Material und Schauplätze hätte Kolvenbach eigentlich genug. Er stößt auf Menschen, deren Suche nach jüdischen Verwandten er für seine eigene Recherche nutzen kann. An das Schicksal rheinländischer jüdischer Deportierter erinnert eine beeindruckende Ausstellung in einem nun zum Düsseldorfer Uni-Campus gehörenden Gebäude. Früher war es der Schlachthof, von dem Transporte in die Vernichtungslager abgingen. Indem Kolvenbach letzte Überlebende oder Angehörige Ermordeter offiziell für die Ausstellung interviewt, erfährt er auch einiges über Kanns letzte Reise. Die Berichte der Zeitzeugen sind sehr bewegend; ein Historiker ergänzt sie durch Hintergrundinformationen. Auch eine Reise nach Polen in das zum Museum umgewandelte Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek erzählt von heutigem Gedenken und lässt das gewaltsame Ende Fritz Kanns erahnen.
Familien- und Zeitgeschichte
Dennoch bleibt Kann den ganzen Film über ein Gespenst. Schemenhafte Konturen nimmt er nur durch das Schicksal überlebender oder ermordeter Familienmitglieder an, deren Werdegang besser dokumentiert ist. So fliegt Kolvenbach auch nach Buenos Aires, wohin ein Teil der Familie kurz vor Kriegsausbruch flüchtete, und besucht das Grab eines Verwandten von Fritz Kann. Der Film endet in einer Plattenbausiedlung in Ost-Berlin mit einem Besuch bei der Familie eines Neffen von Kann. Dieser wurde mit einem Kindertransport nach Großbritannien in Sicherheit gebracht, kämpfte am Ende des Krieges als britischer Soldat und wollte dann in der DDR ein besseres Deutschland aufbauen.
So zeitigt die Suche nach Fritz Kann zwar nur wenige Informationen über ihn selbst. Doch der Filmemacher hat ein wichtiges Kapitel direkter und indirekter Familiengeschichte aufgearbeitet, die weite Kreise schlägt und die auch das Kinopublikum mit Interesse und Anteilnahme verfolgt.