Jesus bedeutet im Leben von Mariana (Mari Oliveira) alles. Sie ist Teil einer fanatischen Glaubensgemeinschaft, in der strenge Regeln gelten. Frauen haben sich dem Mann unterzuordnen und dabei makelloses Beiwerk zu sein: die Kirsche auf dem Topping. Sex vor der Ehe und jegliche Form von eigenem körperlichen Begehren ist tabu. Gemeinsam mit ihren Glaubensschwestern zieht Mariana, die Gesichter unter ausdruckslosen, weißen Masken versteckt, durch die Straßen der Stadt. Unzüchtigen, promiskuitiven Frauen soll eine Lektion erteilt werden. Unter Tritten und Schlägen werden die Opfer zu einem Bekenntnis zu Jesus genötigt – für alle Welt sichtbar in die Handykameras der Peinigerinnen gesprochen.
Dann allerdings wird Mariana bei einer nächtlichen Aktion verletzt. Ein tiefer Schnitt hinterlässt eine unschöne Narbe in ihrem Gesicht. Daraufhin verliert die junge Frau nicht nur ihren Job bei einem Schönheitschirurgen. Die angekratzte Oberfläche setzt eine emanzipative Entwicklung in Gang; das verletzte Gesicht weckt das Begehren.
Das erste Opfer der Missionarinnen
Mariana hat sich in den Kopf gesetzt, die legendäre Melissa zu suchen. Diese ist zu einer mythischen Figur geworden, weil sie als berühmte Schauspielerin das erste Opfer einer Missionarin geworden ist. Aufgrund ihres sehr liberalen Lebenswandels wurde sie mit Benzin übergossen und in einem Nachtclub angezündet.
Während die Erzählung über Melissa die Gläubigen eigentlich in ihrem Fanatismus bestärken soll, bewirkt sie bei Mariana das Gegenteil. Sie beginnt sich mit dem entstellten Phantom zu identifizieren, und löst damit eine Rebellion aus, mit der die Männer nicht gerechnet haben.
Regisseurin Anita Rocha da Silveira hat mit „Medusa“ ein wütendes Biest von einem Film gedreht, einen unheimlichen Thriller, der mit klugen Bildern und geschickten Referenzen die aufgestaute Wut über das Patriarchat in einen hypnotisch-ermächtigenden Sog verwandelt. Ihre Message signalisierte die brasilianische Filmemacherin schon unmissverständlich mit dem Titel des Films: Medusa. Diese männermordende Frau mit dem Schlangenhaar kennt man aus der griechischen Mythologie. Wer sie anblickt, so die Sage, erstarrt zu Stein. Bis Perseus, der Mann als Held, dem Monstrum den Kopf abschlägt.
Von misogynen Narrativen durchzogen
Dieser Teil der Schauergeschichte ist im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft tief verankert. Was hier zum Ausdruck kommt, ist die männliche Furcht vor der Verführung durch das Weib. Wie schon Alex Garland in seinem grotesk-grandiosen „Men“ gezeigt hat, sind die alten Sagen, Mythen und Geschichten von misogynen Narrativen durchzogen. Auch dem Mythos der Medusa wohnt eine Gewaltgeschichte inne. Von Poseidon vergewaltigt, wird ausgerechnet Medusa von Athene für die Schändung des Tempels bestraft. Heute würde man von „Victim-Blaming“ sprechen, denn noch immer müssen Frauen nach Vergewaltigungen vor Gericht darüber sprechen, ob sie auf Dating-Portalen unterwegs waren oder besondere Unterwäsche getragen haben.
Rocha da Siveira attackiert mit „Medusa“ diese Ordnung der Opferumkehr, ohne einen trockenen Thesenfilm zu drehen. Die expressionistischen Bilder lassen aufgrund der neongrellen Rot- und Grüntöne an „Suspiria“ von Dario Argento denken, in dem die Unterdrückung der Balletttänzerinnen von einem Matriarchat ausgeht. Auch in „Medusa“ wird die männliche Ordnung lange Zeit von den Frauen aktiv mitgetragen. Hinzu kommt das Symbol der Hexe als Urbild weiblicher Unterdrückung: aktives sexuelles Begehren wurde den Hexen zugeschrieben.
Doch auch die (alb)traumhafte Volatilität eines David Lynch ist hier nicht weit, wenn die langen, dunklen Gänge bedrohlich wanken. Während bei „Lost Highway“ aber eine Möbiusschleife in die unendliche Finsternis der Verdrängung führt, entdeckt Mariana in ihrer fantasmagorischen Traumwelt ihr eigenes, verkümmertes Begehren nach Freiheit.
Begehren als Freiheit
Beeindruckend an diesem stylisch-tiefgründigen Film ist das Spiel mit Maskierungen, Oberfläche und Tiefe. Der schöne Schein der Lieblichkeit, all die Pastellfarben und Glaubensbekenntnisse, sind in Wirklichkeit nichts anderes als Praktiken der Züchtigung. Als sich Marianas beste Freundin Michele (Lara Tremouroux) nach einer gescheiterten Videoblog-Aufnahme abschminkt, kommt ein blaues Auge zum Vorschein, bei dem man unweigerlich an das berühmte Selbstporträt der von häuslicher Gewalt gezeichneten Nan Goldin denken muss. Unter all der kirchlichen Moral schlummert die Gewalt, die sich in den eigenen vier Wänden abspielt.
Immerzu tragen die Frauen in „Medusa“ also Masken – buchstäblich und auch im übertragenen Sinne. Die Gesichtsverletzung von Mariana stößt deshalb auch den ersten Stein einer langen Dominoreihe um, die bis zu Melissa, dieser modernen Medusa, stürzen wird. „Medusa“ ist ein wichtiger Film, der weniger von Rache als von Emanzipation, weibliche Solidarität und der Umdeutung reaktionärer Geschichten handelt.