Eine Frau (2021)
Dokumentarfilm | Deutschland/Argentinien 2021 | 104 Minuten
Regie: Jeanine Meerapfel
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland/Argentinien
- Produktionsjahr
- 2021
- Produktionsfirma
- Unafilm/Malena Filmproduktion/Oh My Gómez! Films
- Regie
- Jeanine Meerapfel
- Buch
- Jeanine Meerapfel · Ingo Haeb
- Kamera
- Johann Feindt
- Musik
- Floros Floridis
- Schnitt
- Vasso Floridi
- Länge
- 104 Minuten
- Kinostart
- 01.12.2022
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm | Dokumentarisches Porträt
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Assoziativer Filmessay der Regisseurin Jeanine Meerapfel über das Leben ihrer Mutter zwischen Frankreich, Deutschland und Argentinien mit vielen Anspielungen auf die Motive Verfolgung, Antisemitismus, Flucht und Emanzipation.
In Südamerika kreuzten sich bekanntlich die Wege von Nazis und jüdischen Migranten. Marie Louise Chatelaine, genannt Malou, war eine der letzteren. Ihr Leben begann als Waisenkind in einem kleinen Ort in Frankreich. Ihre Eltern waren als Tagelöhner so arm, dass sie das Kind lieber in die Obhut anderer gaben. Es folgten Stationen in Straßburg, wo sie bei einem Herrenausstatter arbeitete und einen reichen deutsch-jüdischen Handelsvertreter kennenlernte. Wegen der Hochzeit zog sie mit ihm nach Untergrombach in Deutschland, wo die Familie im Tabakhandel aktiv war. Der soziale Aufstieg ermöglichte ihr das Ausleben bürgerlicher Hobbys wie Tennis spielen oder Ski fahren in Davos. Auf der Flucht vor der Nazi-Diktatur ging es erst nach Amsterdam, dann nach Argentinien. Hier verließ der Mann die Familie für eine andere Frau. Malou musste sich in der Fremde mit zwei Kindern allein durchschlagen, trank und verarmte, bis sie mit nur 61 Jahren an Nierenversagen starb.
Ihre 1943 in Buenos Aires geborene Tochter Jeanine Meerapfel lässt dieses exemplarische Migrantenleben entlang von Fotos, Super8-Aufnahmen, Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Kleidern und anderen persönlichen Gegenständen Revue passieren. Die Präsidentin der Berliner Akademie der Künste und Regisseurin von Dokumentarfilmen wie „Im Land meiner Eltern“ und Spielfilmen wie „Annas Sommer“ hat für ihr mit Zeitsprüngen spielendes Mosaik eine assoziativ-essayistische Form gewählt, um auch das eigene Erinnern zu reflektieren.
Ein meditativer Fluss aus Bildern
In den 1960er-Jahren zog Meerapfel nach Deutschland, studierte Film, arbeitete als Kritikerin und begann selbst autobiographisch gefärbte Filme zu drehen. „Eine Frau“ setzt den von ihr vielfach aufgegriffenen Themenkomplex von Verfolgung, Antisemitismus, Flucht und Emanzipation fort, in einem ruhigen, meditativen Fluss aus Bildern von Menschen, die heute an den früheren Wohnorten der Familie leben, in den Häusern und Wohnungen, die Meerapfel von den vergilbten Fotografien kennt. Viele lassen sie und ihr Team herein, erzählen ihre eigenen Geschichten und spielen sogar mit, wenn die kleine Tochter der türkischen Familie, die heute im Haus der Großeltern wohnt, die fotokopierten Fotografien von Malou an den Wänden ihres Kinderzimmers verteilt. Dazu gesellen sich Aufnahmen wechselnder Landschaften, Kornfelder und das Meer, flankiert aus dem Off mit Meerapfels Stimme und den Gedanken, die sie über ihren inszenatorischen Ansatz, die Schicksale der Verwandten und vor allem die Fragilität des Erinnerns äußert.
„Ich muss so lange erinnern, bis ich vergesse“, sagt sie einmal und tatsächlich hat man den Eindruck, dass trotz der vielen Fotos, Reisen und fest im Gedächtnis verankerten Anekdoten die Vergangenheit mit der Gegenwart verschmilzt, die zunächst hergestellte Ordnung bröckelt und allmählich ihre scharfen Konturen verliert.
Reiche Spurensuche
Ganz nebenbei schweift Meerapfel auch gerne ab und sinniert über von Männern abhängige Frauen, die eigene Identität oder die von der Politik herbeigeführte Zerstörung von Lebensräumen. Wahrnehmungstheoretische Exkurse wechseln sich ab mit Bruchstücken, die auf die französische oder argentinische Geschichte verweisen, wenn sie sich etwa den Konkubinen Henri IV widmet, die den Namen ihrer Mutter trugen und deren Leben kein glückliches Ende nahm. Eine andere Spur führt zu der Entführung des Leichnams von Evita Perón, der über zwei Jahrzehnte verschwunden blieb. Meerapfel vermutet, dass die argentinischen Militärs so den Evita-Kult abschwächen wollten.
In Einordnungen wie diesen teilt sie ihren Skeptizismus gegenüber Hierarchien und autoritären Systemen mit. Deshalb wechselt sie gedanklich auch immer wieder die Richtung, lässt Leerstellen zu und Sackgassen, aus denen der Betrachter eigenständig den Weg herausfinden muss – eine überaus reiche, weit verzweigte Recherche nach den Wunden der Vertreibung, der Tragik eines gescheiterten Neuanfangs und den Folgen des Exils für die nachkommenden Generationen.