Wie bleiben wir mit den Toten im Gespräch? Meeri schreibt ihrer verstorbenen Mutter Briefe und steckt sie anderen Leichen zu, in die Innentasche des Jacketts oder sonst irgendwie im Sarg. Da passt es ganz gut, dass ihr Vater Bestatter ist und die Leichenhalle gleich im Haus unter ihrer Wohnung liegt. Eine Treppe runter, wo die Toten in den Särgen liegen und ab und an einen „Kadaverlaut“ machen.
Das muss man aushalten, wenn man mit dieser Familie zu tun haben will. Die 13-jährige Meeri (Leni Deschner) und ihr kleiner Bruder Luk (Benedikt Jenke) haben wenig Berührungsängste mit den toten Körpern. Ihr Vater Ernst (Luc Schiltz) aber hangelt sich von Blind Date zu Blind Date und trifft sich offenbar mit einer Frau nach der anderen, der die Gespräche beim Abendessen dann doch etwas zu direkt sind. Kinder können gnadenlos sein.
Schmetterlinge im Bauch
Bis Charlotte (Fabienne Elaine Hollwege) auftaucht, die weder mit den Kindern noch mit den Leichen Probleme hat, aber von einem anderen Mann schon sichtbar schwanger ist. Meeri ist eigentlich gar nicht begeistert. Dabei hat sie ganz andere Probleme. Ihr Bruder wird von einigen Jungs geärgert und gemobbt, und außerdem verliebt sie sich auch noch in den 16-jährigen Rocco (Jonas Kaufmann) aus ihrem Ort. Dieses Gefühl macht sie so leicht, dass sie tatsächlich zu schweben und zu fliegen beginnt.
Selten hat ein Film dem Ausdruck „Schmetterlingen im Bauch“ visuell so viel Auftriebskraft gegeben. „Himbeeren mit Senf“ tut auch gar nicht so, als würde hier nur Gefühlen sichtbarer Ausdruck verliehen, denn Meeri fliegt wirklich! Ihre beste Freundin Klara (Sophie Zeniti) macht sich etwas Sorgen, doch wie Vater und Bruder verpflichtet sie sich, davon niemandem etwas zu sagen.
Doch über ihre plötzlichen Flugkünste regt sich dann doch niemand so richtig auf; denn das ist hier eine seltsam märchenhaft-realistische Welt, ein Ort irgendwo zwischen Dorf und Kleinstadt, der das milde Fantastische mühelos mit dem Bodenständigen verbindet. Der Blick des Films ist ganz und gar auf die Menschen und ihre Beziehungen fokussiert, wo es noch Roccos kleinen Bruder Matti (Ben Bernar) gibt, der seinerseits in Meeri verliebt ist, sowie Grete (Inge Maux), die Hühner züchtet, Himbeeren erntet und für alle Kinder um sie herum wie eine großzügige Oma ist.
Nicht immer geht alles glatt
In warmherzig-liebevollen Bildern und ohne jede Hektik werden am Ende sogar fünf Liebesgeschichten ineinander verdrechselt, wobei reichlich Pubertät im Spiel ist, ein wenig Erziehung und ein kleines bisschen auch Verzweiflung, weil irgendwann ein Herz auch etwas angeknackst wird; es geht schließlich nicht immer alles glatt.
Regisseurin Ruth Olshan hatte sich schon sehr früh für Leni Deschner als Hauptdarstellerin entschieden, die mittlerweile auch in „Alfons Zitterbacke – Endlich Klassenfahrt!“ in der weiblichen Hauptrolle zu sehen war. In den drei Jahren von Deschners Casting bis zum Drehbeginn mussten Olshan und Heike Fink dann das Drehbuch immer wieder so anpassen, dass es zu Deschners Alter passte.
Es braucht eine Kleinstadt
Gelegentlich meint man zu spüren, dass „Himbeeren mit Senf“ anfangs für jüngere Kinder konzipiert war, da die Konflikte und Entwicklungen mitunter ein wenig zu einfach und idealisiert sind. Von einer Kinderfilm-Variation des Samstagabend-Fernsehfilms unterscheidet sich der Film aber deutlich; alle Figuren, ihre Motive und Handlungen sind stets nachvollziehbar und glaubhaft – und Auseinandersetzungen lassen sich nicht immer komplett auflösen. In dieser etwas idealisierten Welt will Klara unbedingt die erste katholische Priesterin werden und übt sich schon einmal, indem sie mit einem Mikrofon die Gespräche im Beichtstuhl abhört.
„Himbeeren mit Senf“ ist kein schmalziges Wohlfühlkino, sondern eher ein Ensemblefilm, der die Liebe in der Kernfamilie hochhält und sie zugleich in einem – hier sehr überschaubaren – Größeren verankert: Es braucht eine Kleinstadt, um die ersten Liebeswirren aufzufangen – und um die Jugendlichen bodennah zu halten, auch wenn sie vor Glück abheben.