Lydia Tár lebt auf dem Olymp. Die Rede, die sie dem Publikum vorstellt, das sich in der Philharmonie Berlin versammelt hat, hebt sie auf den Berg der Götter. Eine endlose Liste von prestigeträchtigen Engagements, Stipendien, Aufnahmen und Triumphen wird verlesen, bevor die Stardirigentin selbst die Bühne betritt. Mit der ersten Geste reißt sie das Gespräch an sich. Gespannt sieht das Publikum ihr dabei zu, wie sie mit der Hand ihre Gedanken anrührt, die Zeit zwischen ihren Fingern gefangen hält und die eigene Arbeit mit falscher Bescheidenheit in die höchsten Sphären hebt – präzise und affektiert. Zweifel gibt es nach dieser Szene nicht mehr: Lydia Tár ist eine Gottheit, Cate Blanchett die einzig denkbare Besetzung.
Das Pantheon ist seit jeher ein für Hoch- und Massenkultur gleichermaßen fruchtbarer Boden. Schon in der Antike war es zugleich ernsthaft geführter religiöser Diskurs und passioniertes Stammtischgerede. Die Kurzsichtigkeit, Selbstsucht und Grausamkeit, kurz gesagt: die Fehlbarkeit der Olympier macht sie zum allumfassenden, unsterblichen Faszinosum. Lydia Tár ist dieses Faszinosum, übermenschlich und allzu menschlich, übermächtig und fehlbar. „Tár“ ist die dazugehörige Erzählung – ein zu gleichen Teilen sensationslüsterner und hochgeistiger Mythos.
Eine Göttin auf Erden
Auf den ersten Blick scheint der Olymp der Musik so elitär wie egalitär organisiert. Die Mitglieder und Bewerber des Orchesters spielen hinter Sichtschutz vor, die Ranghöheren lauschen den anonymen Klängen, tragen Bewertungen in ihre Bewertungslisten ein. Tatsächlich belauert man sich hinter den Kulissen, sucht eine Lücke in den dichten Reihen der musikalischen Genies, versucht einen Blick unter den Sichtschutz zu erhaschen wie ein Spanner, der sich unter die Toilettenkabine klemmt.
Der von Todd Field inszenierte Entwurf dieser Welt, nicht unähnlich dem so infantilen wie aufregenden Blick, den Darren Aronofsky in „Black Swan“ auf die Welt des Balletts wirft, taugt weniger als ernstgemeintes Sittenbild des klassischen Musik- oder des zeitgenössischen Kulturbetriebs. „Tár“ ist das Porträt einer Göttermutter, die auf die Erde hinabsteigt, um ihren Gelüsten folgend eine Untat nach der anderen zu begehen; ein in allen erdenklichen Formen durchexerziertes Abbild des Machtmissbrauchs. Im Unterschied zu Aronofskys trashigem Horrorballett ist es hier nicht die Verkommenheit eines Kulturbetriebs, die einer Frau die Rolle der Verführerin aufdrückt, sie buchstäblich für die Kunst ausbluten lässt. Die Protagonistin blüht in dieser Welt auf, saugt die Energie der Hochkultur in sich auf, um sie als tödliches Gift wieder abzusondern.
Cate Blanchett unterläuft das angespannt-kontrollierte Bildreservoir, mit dem Field die in Perfektion vorgetragene Musik und den sie umgebenden Luxus verbindet. Handgebastelte Stifte, persönliche Schneider, Privatjets, Sternerestaurants; absurd überbetonte Schlagfiguren, poetische Annäherungen an die großen Komponisten: Ausführlich legt sich der Film eine Idee der ästhetischen Perfektion zurecht, um der Hauptdarstellerin genug Raum zu geben, sie für die eigenen Gelüste zu missbrauchen.
Im Zentrum: Cate Blanchett
Keine Sekunde von „Tár“ wäre ohne Cate Blanchett, ohne ihr mal melodramatisch explodierendes, mal teuflisch kalkuliertes Spiel denkbar. Allein das Talent der australischen Schauspielerin rechtfertigt die zigfache Variation der letztlich immer gleichen Szene: Lydia Tár vernichtet ihre Feinde, vernichtet ihre Freunde, brennt alle Brücken nieder, die in die Zukunft oder die Vergangenheit führen.
Die wirklichen Abgründe ihres Narzissmus schält der Film langsam aus dem gewaltigen Charisma der Protagonistin heraus. Es beginnt zaghaft: Die Leistung eines Dirigentenschülers langweilt sie. Sie empfiehlt ihm Bach, rattert auf dem Klavier dutzende Variationen des Wohltemperierten Klaviers herunter (beispielsweise der spitz stechende Glenn Gould, der stolpernde Erstsemesterstudent, Schröder von den „Peanuts“), umschreibt Bachs Fugen als bescheidenes Fragespiel mit dem Zuhörer. Ein brillanter Vortrag, der den Studenten aber nicht mitzureißen vermag. Er stört sich an der Dominanz weißer Männer im Kanon der klassischen Musik. Tár greift den Faden auf. Nimmt den Schüler so spielerisch auseinander, wie sie zuvor Bachs Fugen auf dem Flügel spielte, bis dieser gekränkt aus dem Hörsaal stürmt.
Es ist ein erster, spielerischer Einblick in die soziopathischen Feldzüge, mit denen Lydia Tár nicht nur die Welt der Berliner Philharmoniker heimsucht. Mit der gleichen Finesse und Musikalität, mit der sie ihrer Lebensgefährtin (und ersten Geige des Orchesters) Sharon (Nina Hoss) ein Beruhigungsmittel unterschiebt und sie im Anschluss mit der exakt auf 65 bpm (beats per minute) getakteten Popmusik zum Tanz bittet, entledigt sie sich ihrer Widersacher im Haus, um Platz für jene Nachwuchsmusikerinnen zu schaffen, die sie begehrt. Mit der gleichen Intensität, mit der sie den in der Notation als „stürmisch bewegt“ aufgeführten Hauptsatz von Mahlers 5. Sinfonie dirigiert, tritt sie einem kleinen Mädchen auf dem Schulhof entgegen, das eine Konfrontation mit ihrer Tochter hatte.
Das Gewicht der Dinge
Die Konsequenzen für Társ eigenes Handeln stellt Todd Field wie einen Horrorfilm mit in den Raum. Im gefüllten Saal der Berliner Philharmonie blickt der Film am gleichen unscharfen Hinterkopf aus der anonymen Masse in Richtung Dirigentin. Das Bild wiederholt sich, bis der rote Haarschopf verschwindet, die Person dahinter aber auf andere Art und Weise in das Leben der Dirigentin tritt. In der eigenen Wohnung holt sie der Takt des eigenen Metronoms aus dem Schlaf, in einem Hinterhof wird sie beim Versuch, einer Musikerin aus dem Orchester nachzugehen, von einem Hund gestellt. Das Knurren des Hundes, der Takt des Metronoms, die Schreiben der Anwaltskanzleien: Alles zerrt an Lydia, versucht die Göttin auf den Boden der Tatsachen zu ziehen, aus den Höhen des Olymps zurück ins tiefste Tal der Popkultur.