Annie Ernaux’ Super 8 - Tagebücher

Dokumentarfilm | Frankreich 2021 | 63 Minuten

Regie: Annie Ernaux

Im Zeitraum von 1972 bis 1981 hielt der damalige Ehemann der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux ihr Familienleben und ihre Urlaube mit einer Super-8-Kamera fest. Aus dem Abstand von vier Jahrzehnten erinnert sich Ernaux an die damalige Zeit und kommentiert die Aufnahmen im Stil ihrer intimen autobiografischen Bücher. Durch die Emphase und die Reflexionskraft der Autorin entwickelt sich das Home-Movie-Material über den persönlichen Zugriff hinaus zu einem ebenso profunden wie pointierten Einblick in die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der damaligen Zeit. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LES ANNÉES SUPER-8
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Les Films Pelléas
Regie
Annie Ernaux · David Ernaux-Briot
Buch
Annie Ernaux
Kamera
Philippe Ernaux
Musik
Florencia Di Concilio
Schnitt
Clément Pinteaux
Länge
63 Minuten
Kinostart
29.12.2022
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Dokumentarisches Essay der französischen Schriftstellerin, die autobiografische Super-8-Aufnahmen aus den Jahren 1972 bis 1981 im Stil ihrer Bücher kommentiert.

Diskussion

Eine Frau im Wintermantel kommt mit Einkäufen zur Tür herein. Dass sie dabei gefilmt wird, macht sie verlegen. Die beiden Kinder folgen ihr, sie strahlen über das ganze Gesicht; ihre Faszination für die Kamera ist weitaus größer als ihre sichtbare Schüchternheit. Es sind die ersten Bewegtbilder, die Annie Ernaux zeigen; gefilmt hat sie Philippe Ernaux, ihr damaliger Mann. Im Jahr der Aufnahme ist Annie Ernaux Ehefrau, Mutter und Lehrerin für Literatur an der Oberschule, die Schriftstellerin, für die sie heute bekannt ist und bewundert wird, beginnt gerade erst in ihr heranzuwachsen. Einmal filmt ihr Mann sie beim Schreiben. Fast verschreckt schaut sie auf, als sei sie bei etwas ertappt worden, das ihr eigentlich nicht zusteht.

Im Winter 1972 kauft sich das Ehepaar Ernaux das „ultimative Wunschobjekt“, eine Super-8-Kamera, die über einen Zeitraum von 9 Jahren dann ihr gemeinsames Leben aufzeichnet. Die Rollen sind klar verteilt: Philippe Ernaux ist der Regisseur. Er bestimmt, was wert ist, gefilmt zu werden, er wählt Bildausschnitte und dirigiert. Annie Ernaux, die nur in wenigen Momenten die Kamera übernimmt, und die beiden Söhne Eric und David sind Darsteller:innen. Der Film „Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre“, den die Autorin gemeinsam mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot realisiert hat, erzählt aus der Rückschau. Der von ihr geschriebene und selbst eingesprochene Text, der die Bilder aus dem Familienarchiv begleitet, ist nahe an ihrem Schreiben. Als Kommentar zu Bildern ist er dennoch etwas fundamental anderes.

Ein Projekt der Erinnerungsarbeit

Ähnlich wie ihre „unpersönlichen Autobiografien“, etwa „Die Jahre“ und „Der Platz“, ist auch „Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre“ ein Projekt der Erinnerungsarbeit, verbunden mit Bildbefragung und soziologischer Analyse. Auch hier spielt das Schreiben als lebenserhaltende Praxis eine entscheidende Rolle – ebenso wie die Erfahrung des Klassenwechsels durch Aufstieg vom Arbeitermilieu in die Bourgeoisie, die sie schmerzhaft von ihrer Herkunftsgeschichte trennt. Man sieht Szenen eines Kleinfamilienlebens: Mahlzeiten, Familienfeste wie Geburtstage und Weihnachten, Besuche von Ernaux’ Mutter, die in ihrer geblümten Kittelschürze im bürgerlichen Dekor wie ein Fremdkörper wirkt; Annie Ernaux mit einem Buch in der Hand auf dem Ehebett, am Schreibtisch. Es sind Zeugnisse einer spezifischen Zeit und Dekade. Sie dokumentieren den Lebensstil einer sozialen Klasse, ihre Vorstellung von Familienleben, Freizeitgestaltung und politischer Positionierung.

Die Bilder des Films sind gleichzeitig wahr und falsch, sie haben einen doppelten Boden: sie sind nicht das, was sie zu sein scheinen. Ernaux, die als Erinnerungshilfe ihr Tagebuch aus den Jahren herangezogen hat, erkennt hinter dem Bild der unscheinbaren jungen Mutter „eine heimlich gequälte Frau“. In den vermeintlich glücklichen Momenten, die die Kamera einfängt, erkennt sie „eine Art von Gewalt“. Denn während sie das Familienleben aufrechterhält, wird sie durch das Bedürfnis zu schreiben von eben diesem entfremdet.

Wo Gesellschaft anders ausprobiert wird

Die „Super-8-Jahre“ von Annie Ernaux sind aber auch durch Reisen geprägt. Das junge Paar, das sich der nicht-kommunistischen Linken zugehörig fühlt, interessiert sich für Orte, an denen Gesellschaft anders ausprobiert und gelebt wird. 1972 reisen sie ins Chile von Salvador Allende und besuchen verstaatlichte Fabriken, Salz- und Kupferminen. Umgeben von „proletarischer“ Arbeit und Kollektivität erinnert sich Ernaux an ein Versprechen, das sie sich mit 20 Jahren selbst gegeben hatte: „Ich werde schreiben, um mein Volk zu rächen.“ Andere Reisen folgen: nach Albanien, Russland, Marokko, immer wieder auch in die Ardèche, wo man für eine begrenzte Zeit das Leben in der „unschuldigen“ Natur zelebriert. Unweit der Idylle wird gerade ein Atomkraftwerk in Betrieb genommen.

Mit der Veröffentlichung ihres ersten Buchs im Jahr 1974 bekommt die Ehe erste Risse; die wachsende Distanz schreibt sich dabei auch in die Bilder ein. Die Kamera von Philippe Ernaux richtet sich fortan immer weniger auf die Menschen in seiner nächsten Umgebung, Ernaux spricht von einer „Verknappung von Körpern und Gesichtern in Bildern“. Nach dem Ende der Ehe siebzehn Jahre später ist auch das Filmprojekt an einem Schlusspunkt angelangt. Der Mann nimmt die Kamera mit, Frau und Kindern überlässt er den Projektor, die Leinwand und die Filmrollen. Erst Jahre später, als die Söhne inzwischen selbst Väter sind, wird das Material erneut gesichtet.

Roher als in den Romanen

„Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre“ ist eher als Ergänzung von Ernaux’ Schreiben zu betrachten. Tatsächlich wirkt die Kraft der Sprache, die in jedem ihrer Romane nachdrücklicher wirkt, auch roher und unbearbeiteter, hier wie von den Bildern geschwächt. Was unter anderem auch an der Nachbearbeitung durch David Ernaux-Briot liegt. Zudem belebt das zwar subtile, aber dennoch überaus präsente Sounddesign – eine Vertonung von Geräuschen, dazu immer wieder Musik – die stummen Bilder, was diese eigentlich nicht bräuchten. Bilder und Fotografien sind zwar auch in Ernaux’ Texten ein wiederkehrendes Element, doch die Belebung entsteht dort aus dem Zusammenspiel von Bildbeschreibung, Erinnerung und Reflexion. „Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre“ setzt mehr auf das Auserzählen.

Vielleicht muss man den Film deshalb eher als Projekt einer Wiederaneignung betrachten, als eine Art Verschiebung von Besitzverhältnissen. Annie Ernaux, das Objekt des Blicks ihres Mannes, übernimmt die Deutung über das Bild und gibt der stummen Frau die Stimme zurück, die schon da war, verborgen in ihr.

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