Unter den Anime-Regisseuren dürfte Mamoru Hosoda mittlerweile knapp hinter Hayao Miyazaki, Isao Takahata und womöglich noch Satoshi Kon rangieren. Nach einer Reihe von Filmen, die auf populären Serien wie „Digimon“ oder „One Piece“ basierten, fand der 1967 geborene Hosoda seine ganz eigene kreative Stimme: lebensbejahende Coming-of-Age-Geschichten durchsetzt mit mystisch-magischen Elementen. Und das entweder in der realen Welt („Das Mädchen, das durch die Zeit sprang“ und „Mirai – Das Mädchen aus der Zukunft“), einer parallelen Fantasy-Welt („Der Junge und das Biest“) oder wie im Fall von „Summer Wars“ in einer digitalen Sphäre. Dorthin kehrt Hosoda nun auch mit „Belle“ zurück.
Eine (Selbst-)Täuschung ist nicht möglich
Diese Welt heißt „U“ und ist ein globales Soziales Netzwerk, in dem alle sich ihre Träume erfüllen können. Am eigenen Erscheinungsbild aber kann nicht gerüttelt werden. Wer einen Account erstellt, wird einem speziellen Scan unterzogen, der das Aussehen des eigenen Avatars definiert, der sich an körperlichen und charakterlichen Eigenschaften orientiert. Trotz Anonymität ist (Selbst-)Täuschung hier also nicht möglich.
Für die auf dem Lande lebende Suzu ist U ein perfekter Ort, um der sozialen Isolation zu entfliehen: Seit dem Tod ihrer Mutter ist die Beziehung zu ihrem Vater erkaltet, und auch in der Schule hat sie nur eine Freundin. Ansonsten tut sie sich schwer, mit anderen in Kontakt zu treten. Darunter leidet auch ihre große Leidenschaft, das Singen. Als sie dem Sozialen Netzwerk unter dem Namen Belle beitritt, findet sie im Schutze der Anonymität bald wieder den Mut, die Stimme zu erheben und avanciert schnell zum Star.
Dort macht sie auch die Bekanntschaft mit einem Avatar, der von allen nur „das Biest“ genannt wird, von Zorn erfüllt scheint, sich nicht um Regeln schert und ständig auf der Flucht vor der an Superhelden wie die Avengers erinnernden digitalen Polizei ist. Suzus Neugier und Empathie sind geweckt. Sie macht sich auf die Suche nach dem „Biest“, um sein dunkles Geheimnis zu lüften und ihm aus seiner misslichen Lage in der realen Welt zu helfen.
Licht und Schatten, Gutes und Schlechtes
Während sich „Summer Wars“ noch um große Konflikte drehte, die scheinbare Unvereinbarkeit der virtuellen Welt mit der physischen, in der eine traditionelle japanische Familie gegen die Gefahren des Cyberspace antrat, ist es diesmal die digitale Sphäre selbst, die zum Ort der Gegensätzlichkeiten wird. Ganz ähnlich wie sich hinsichtlich der Sozialen Medien weder die utopischen Verheißungen noch die apokalyptischen Mahnungen erfüllt haben und die digitalen Räume von Licht und Schatten bestimmt werden, ist auch U ein Ort, an dem Gutes auf Schlechtes, Zusammenhalt auf Ausgrenzung, freie Entfaltung auf sozialen Druck trifft. Am deutlichsten wird dieser Dualismus in der Beziehung zwischen Belle und dem Biest, die Hosoda getreu dem französischen Volksmärchen „Die Schöne und das Biest“ respektive dem Disney-Animationsfilm von 1991 inszeniert.
Denn auch hier residiert das Biest in einem magischen Schloss und ist von unbändigem Zorn erfüllt. Doch unter dieser Schale steckt ein (in der Realwelt) emotional verwundeter Kern, den Suzu/Belle zu heilen versucht, zunächst allein, doch aufgrund ihrer Gesangskünste und Popularität bald mit immer mehr Menschen zusammen. Dank des Verzichts auf eine romantische Komponente geschieht dies hier auch angenehm kitschfrei.
Mit allen Tönen dazwischen
Inszenatorisch präsentiert Hosoda seine bisher eindrucksvollste Leistung, denn die Kontraste sind auch visueller Natur. Während die Szenen in der realen Welt klassischem Anime-Zeichentrick mit filigranen Hintergründen entspringen, kommt in U verstärkt 3D-Animation um Einsatz, was mitreißende Kamerafahrten und eine hohe Dynamik ermöglicht. Daneben besticht der virtuelle Schauplatz durch überbordende Farbenpracht und höchst kreative Figurendesigns, was den emotionalen Schlüsselmoment des Films – eine Massenszene, in der auch die Musik zum Höhenflug ansetzt – zur ästhetischen Offenbarung werden lässt.
„Belle“ bezeugt damit den kreativen wie auch persönlichen Reifeprozess, den Mamoru Hosoda in den letzten Jahren als Regisseur durchlaufen hat. Schon in „Mirai“ löste er sich vom konservativen Familienbild, das seine Filme bis dahin durchzog, und ließ den Vater eines Neugeborenen als Hausmann zu Hause, während die Mutter das Brot verdienen ging. „Belle“ verpasst nun einem anderen Kernthema von Hosoda, dem wechselseitigen Einfluss von Gesellschaft und digitaler Sphäre, einen zeitgemäßen Anstrich, indem Schwarz und Weiß sowie alle Grautöne dazwischen zur Geltung kommen.