Eine Tochter muss Abschied von ihrem sterbenden Vater nehmen und erfährt dabei von der Mutter, dass er sich in der Freizeit am liebsten als Frau verkleidete. Der tragische Tod des Vaters, der durch einen Fahrradunfall ums Leben kam, weil ein Schüler ein Seil über die Straße spannte, wird für die Filmemacherin Uli Decker zum Ausgangspunkt eines postumen Gesprächs mit ihrem Vater. In einer intensiven Beschäftigung mit seiner Biografie befragt sie sein Denken und Fühlen. In einer „geheimen Kiste“ findet sie seine Tagebücher und beginnt, das Familiengeheimnis zu lüften, das auch ihr Leben beeinflusst hat.
Eigentlich wollte Uli Decker Cowboy werden oder Pirat, gerne auch Papst, und war alles gleichzeitig: ein Junge, ein Mädchen, ein Abenteurer. Sie lehnte Kleider und Röcke ab und wollte sich partout nicht den Zwängen ihrer streng katholisch geprägten Heimat in Bayern unterordnen. Ihr Vater fühlte sich „verbaut von der katholischen Erziehung“, heißt es in seinen Tagebüchern. Für den 1936 geborenen Mann gab es im Rahmen des nationalsozialistischen Männlichkeits- und Rassenwahns keine Wahlmöglichkeiten. Als er mit neun Jahren entdeckte, dass er gerne Frauenkleider trug, konnte er mit niemand darüber sprechen. Damals begann seine „Schattengeschichte“, wie er sein Doppelleben später nannte, in dem der Spiegel zum einzigen Verbündeten wurde.
Der Spiegel als Verbündeter
Sein ganzes Leben lang quälten ihn Schuldgefühle, die sich nur dann verflüchtigten, wenn er in Frauenkleidern durch die nächtlichen Straßen von München spazierte. Sein Drang zum Transvestieren, wie er es nannte, blieb trotz einiger längerer Pausen stärker als die Angst vor dem Erwischtwerden. Viele Jahre lange blockierte ihn der Zwang, seine Neigung zu unterdrücken. Das machte ihn depressiv; der stille, in sich gekehrte Mann zog sich noch mehr in sich zurück. „Das Unsagbare schob sich wie eine Glaswand zwischen mich und die Menschen“, schrieb er.
Nach dem Abitur verlor er den Halt. Er erlernte einen ungeliebten Beruf und entschloss sich erst relativ spät, Lehrer zu werden. Während seines Pädagogikstudiums verliebte er sich in seine spätere Frau Monika, bei der er Halt fand. Erst viel später weihte er sie in sein Doppelleben ein; sie hatte ein Spitzenhemdchen gefunden und dachte, dass er sie betrüge. Nach bald 25 Jahren Ehe wurde sie seine vertraute Partnerin. Gemeinsam gingen sie für ihn Frauengarderobe und Make-Up einkaufen; zu Hause staffierte er sich als Frau aus, trug Monikas und seine eigenen Kleider. Viele Ängste verflogen dadurch. Doch die anderen, auch seine beiden Töchter, durften von seiner „Anima“, seiner wahren Seele, nichts erfahren.
Ein Brief an Uli Decker, kurz vor dem Tod des Vaters, könnte vielleicht darauf anspielen, dass er sich gegenüber seiner ältesten Tochter offenbaren wollte. Ihr Verhältnis zum Vater war schwierig. Manchmal hatte sie den Eindruck, als habe er Angst vor ihr, der Rebellin, die sich allem widersetzte, was von einem Mädchen in den 1970er-Jahren in der bayerischen Provinz erwartet wurde.
Mit intellektueller Distanz
Uli Decker ist es gelungen, die Geschichte ihres Vaters, die so eng mit ihrer eigenen Biografie verwoben ist, einerseits humorvoll und gleichzeitig mit jener intelligenten Distanz zu erzählen, die das Banale vom Substanziellen und den Smalltalk vom Philosophieren unterscheidet. Dabei geht sie inhaltlich und formal fantasievoll vor und bedient sich unterschiedlicher dokumentarischer Ausdrucksweisen, die sie souverän mischt und kombiniert. „Anima – Die Kleider meines Vaters“ ist biografisch und autobiografisch; dokumentarische und inszenierte Sequenzen wechseln mit lockeren Dialogen und persönlichen Stellungnahmen. Erzählt in Ich-Form und selbst gesprochen, gestaltet Uli Decker den Film wie ein Gespräch mit dem Vater.
Für den Rückblick auf sein Leben nutzt sie neben seinen Tagebüchern viele private Fotos, Ausschnitte aus Filmen, Wochenschauen sowie Fernsehbilder und animierte Sequenzen, abwechslungsreich kombiniert mit Interviews: Die Mutter und ihre Schwester kommen zu Wort, ebenso einige Freunde der Familie. Die Tonalität bleibt dabei stets leicht und liebenswürdig; es wird viel gelacht. Einsichten und Bekenntnisse gibt es nur sparsam. Dass der Vater ausgerechnet die Schachtel mit Deckers Babyschuhen zur Aufbewahrung seiner Schminkutensilien verwendet, wird zum kleinen Highlight – wobei hier vielleicht etwas überinterpretiert wird, denn womöglich hat sich der Vater dabei gar nichts gedacht. Die Schachtel war da, also wurde sie verwendet.
Dazu gehört eine vielfältige, intelligente Bildsprache, in der visuell beinahe üppig zu nennende barocke Elemente auf eine moderne, beinahe sachliche Ästhetik treffen. Das wird vom Soundtrack unterstützt, eine Mischung aus klassischen, jazzigen und modernen Tönen, wobei die Songs von Cora Frost einen besonderen Platz einnehmen. Auf diese Weise schafft Uli Decker eine kontrapunktische Ebene, die so interessant wie unterhaltsam ist und den lockeren Gesprächscharakter des Films unterstützt.
Mit behutsamer Distanz
Da sind zwei Stimmen, die von Tochter und Vater, die miteinander verbunden sind, eine gewisse Zeit gegeneinander und miteinander laufen, verbunden in einer gewissen Grundharmonie, in der sie aber jederzeit ihre Eigenart bewahren. So wie sich die Tochter für das Leben ihres Vaters öffnet, Verständnis für ihn zeigt und sein eigentlich tragisches Leben mit sensibler Toleranz betrachtet, so öffnet sie sich letztlich sich selbst gegenüber, bewahrt sich selbst und dem Vater gegenüber aber immer eine behutsame Distanz.
„Anima – Die Kleider meines Vaters“ berührt, weil der Film nicht emotionalisiert oder kitschig die familiären Umstände beleuchtet. Was primär an der Filmemacherin liegt, die humorvoll und mit feiner Ironie von sich selbst spricht, und mit noch mehr Feingefühl und Zuneigung von ihrem Vater.