Hinterland (2021)

Romain Antony | 14.07.2022

Die Häuser sind verzerrt, schräg, die Bäume verbrannt, der Himmel gespenstisch, bedrohlich von Rauch aus überdimensionalen Schloten geschwärzt, die Skyline mit Kränen bestückt, der Vordergrund mit Rohren und Leitungen durchzogen. Durchgängig ist das Szenenbild – eine Kreuzung aus Edvard Munch und dem „Kabinett des Dr. Caligari“ – bemerkenswert, sehenswert. Der Film bürstet unsere Sehgewohnheiten gegen den Strich und gewinnt dadurch Originalität und visuelle Eindringlichkeit. Ein großes Lob für Maskenbild (Helene Lang + Roman Braunhofer), Szenebild (Andreas Sobotka, Martin Reiter, Oleg Prodeus), Musik (Kyan Bayani) und Sound/Tongestaltung (Alain Goniva, Nils Kirchhoff, Michel Schillings) gehört hier gesagt, weil sie mit dem Green Screen Team zusammen dieses neo-expressionistische Seherlebnis geschaffen haben. Mit einigen Kriegsveteranen kommt ein ehemaliger Wiener Polizist nach dem Ersten Weltkrieg aus russischer Lagerhaft nach Wien zurück und muss wie viele Soldaten aus vielen Kriegen erleben, wie ein Wiedereinstieg in die Gesellschaft schwierig ist, vielen misslingt, zu Obdachlosigkeit, Familienentfremdung, Armut führt. Die Tragik der zurückkommenden Helden, oft verkrüppelt, verwundet, abgespeist, mittellos und obdachlos, bei ihrer Heimkehr ins „Hinterland“ an sich und am Integrationswillen ihrer Umgebung scheiternd, ist hervorragend von Michael Haneke im Fernsehfilm „Die Rebellion“ thematisiert worden (1993). Auch William Wyler hat sich des Themas angenommen im Film “Die besten Jahre unseres Lebens“ (1946 – 7 Oscars, leider hat der Film ein sehr geschöntes Ende – er lief kürzlich auf Arte und ist bedauerlicherweise nicht in die Mediathek eingestellt, wird jedoch am Freitag, 22.07. 13.50 Uhr wiederholt). Auch eine Reihe Hollywood-Filme beziehen sich auf die Problematik der traumatisierten und gebrochenen Kriegsheimkehrer (so zu sehen in der Figur des Travis Bickle in „Taxi Driver“ von Martin Scorcese, des Nick Chevotarevich in Michael Ciminos „The Deer Hunter“/ „Die durch die Hölle gehen“, Ron Kovic aus „Geboren am 4.Juli“ von Oliver Stone oder Harry Lime (Orson Welles) aus „Der dritte Mann“ von Carol Reed (a film yet to see again) ; ja, ja,natürlich, Rambo auch, nein, ich vergesse ihn nicht zu erwähnen, muss ja wohl sein). Auf bestialische Art wurden Soldaten umgebracht. Der Kriegsveteran Perg (Murathan Muslu) wird von seinem ehemaligen Kollegen Renner (Marc Limpach) zur Aufklärung der ikonisch inszenierten Morde hinzugezogen, unterstützt wird er dabei von der Gerichtsmedizinerin Dr. Theresa Körner (gespielt vom Patty-Smith-Fan Liv Lisa Fries, hervorragend wieder mal, wie so oft in ihren Rollen). Alle Opfer hatten eine Beziehung zu Perg. Wie der Plot sich weiter entwickelt ist bei diesem Thriller nicht so von Belang. Meine Aufmerksamkeit richtete sich weniger auf die Geschichte, als auf deren bildnerische Gestaltung und Umsetzung, auf die wirren Bildstrukturen, verzogenen Perspektiven von oben oder unten, auf die karge Beleuchtung, auf verrostete Schiffswracks… Manche inhaltlichen Botschaften des Films sind plakativ und fragwürdig. Gott lässt die Menschen in ihrem Elend allein. Diese Aussage wird filmisch dadurch umgesetzt, dass der Protagonist sich auf einen Altar stellt und drauf pisst (sic!). „Schlagen Sie die Zeitung auf. Töten und Quälen ist typisch menschlich“. Das Filmdrehbuch scheint Nihilismus als einzige Antwort auf das Grauen des Ersten Weltkriegs für realistisch und gegeben zu halten und bedient sich merkwürdig simplistischem Sexismus in Zeiten von MeToo: „Wenn ihr Kerle nicht so viel Angst hättet, einen in Friedenszeiten anzufassen, dann bräuchten wir keine Kriege mehr“. Perg trägt ein Problem mit sich herum und spricht darüber mit der Gerichtsmedizinerin.“ Wie soll ich mich meiner Tochter zumuten?“ „Wovor fürchten Sie sich?“ In einer späteren Einstellung sieht man ihn am Schreibtisch, auf dem Boden viel (zu viel!) zerknülltes Papier. Die Kamera zeigt den aktuellen Versuch eines Briefes an seine Frau, die während seiner Abwesenheit aufs Land gezogen ist. „Liebe Anna“ steht auf dem sonst leeren Papier. Ein etwas melodramatischer Ansatz des Filmes, der allerdings dramaturgisch eine mögliche Perspektive für das Filmende einleitet. Auf das Showdown in der Kirchturmspitze möchte ich noch Bezug nehmen. Es erinnerte mich sofort an „Vertigo“ von Alfred Hitchcock. Vielleicht ist die Vermutung einer beabsichtigten Reverenz an den Altmeister zutreffend. Ein interessantes ethisches Dilemma, das Trolley- oder Weichensteller-Problem, wird im Film mit dem Mordmotiv in Verbindung gebracht. Wie soll eine Entscheidung ausfallen, wenn es möglich ist eine Weiche so umzustellen, dass der heranbrausende Zug einen Menschen tötet, viele andere aber dadurch rettet. Auf den Film bezogen: soll das Gefangenenkomitee des Lagers 20 Fluchtwillige verraten und damit dem Tode ausliefern oder zulassen dass als Repressalie für den Fluchtversuch sehr viele Geiseln erschossen werden? Die Rechtfertigung auf den Verrat – und für das Trolley-Dilemma könnte lauten und lautete im Film: „Was wir getan haben war falsch, weil es kein Richtig gab“. Und in wie vielen Entscheidungen trifft diese Rechtfertigung auf die aktuelle Kriegssituation zu? Im Namen der Verwundeten, Getöteten, Gefolterten, Vergewaltigten, Geflüchteten, Traumatisierten, Hinterbliebenen. cf. auch: www.filmekommentieren.wordpress.com