Verlorene Illusionen

Drama | Frankreich 2021 | 150 Minuten

Regie: Xavier Giannoli

In den 1820er-Jahren sucht ein junger Dichter aus der französischen Provinz den Erfolg in Paris. Seine ersten Erfahrungen sind enttäuschend, bis er mit scharf geschriebenen Kritiken als Journalist zu Ruhm gelangt. Indem er sich immer mehr dem käuflichen gesellschaftlichen System verschreibt, verliert er jedoch seine Integrität als Künstler und erliegt seinem eigenen Ehrgeiz wie auch missgünstigen Gegenspielern. Die kongeniale Adaption des gleichnamigen Gesellschaftsromans von Honoré de Balzac überträgt dessen Wirkungskraft auf die Leinwand, betont aber zugleich dessen universelle Elemente. Das intelligente Drehbuch, formale Meisterschaft und versierte Darsteller verleihen dem Film eine außergewöhnliche Lebendigkeit, Dichte und Aussagekraft. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ILLUSIONS PERDUES
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Canal+/Ciné+/Curiosa Films/France 3 Cinéma/Gaumont/Umedia
Regie
Xavier Giannoli
Buch
Jacques Fieschi · Xavier Giannoli
Kamera
Christophe Beaucarne
Schnitt
Cyril Nakache
Darsteller
Benjamin Voisin (Lucien de Rubempré) · Cécile de France (Louise de Bargeton) · Vincent Lacoste (Etienne Lousteau) · Xavier Dolan (Nathan d'Anastazio) · Salomé Dewaels (Coralie)
Länge
150 Minuten
Kinostart
22.12.2022
Fsk
ab 12
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Historienfilm | Literaturverfilmung
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Verleih DVD
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Kongeniale Adaption des gleichnamigen Romans von Honoré de Balzac über einen jungen Dichter, der seinem Ehrgeiz zum Opfer fällt.

Diskussion

Dem 20-jährigen Lucien Chardon sieht man an, dass er keinerlei Zweifel hegt, welcher Weg vor ihm liegt. Wo Honoré de Balzac seinen 1836 bis 1843 entstandenen Roman „Verlorene Illusionen“ noch mit einer Schilderung des historischen Einschnitts durch die weiterentwickelten Druckmaschinen beginnen lässt, um sich langsam an seine Hauptfigur heranzutasten, steigt der Regisseur Xavier Giannoli direkt mit dem jungen Mann ein, der auf der Wiese bei Angoulême seine Verse niederschreibt und die Sonne auf sein Papier scheinen sieht.

Das Blut eines Dichters fließt durch die Adern von Lucien Chardons. Seine Berufung zu literarischem Ruhm verspürt er ebenso deutlich, wie er dem Bild des romantischen Poeten zu entsprechen versucht. So kokettiert er mit der noblen Abkunft seiner Familie mütterlicherseits und verwendet den Namen de Rubempré; die verheiratete Adlige Louise de Bargeron ist seine Muse und Geliebte. Doch die Provinz schadet seiner Entfaltung, und so bleibt dem jungen Dichter nur die letztlich nicht unwillkommene Flucht. Felsenfest überzeugt, in Paris sein Glück machen zu können, lässt Lucien mit Louise seine Heimat zurück.

„Hier ist alles Schauspiel“

„Ein großer Mann aus der Provinz in Paris“, hat Balzac den mittleren, umfassendsten Part seines dreiteiligen Romans benannt. Schon dieser Titel kündet von der bitteren Ironie, gespeist aus eigenen enttäuschenden Erlebnissen, mit der er die Gräben zwischen Wunschvorstellung und Wirklichkeit beschreibt. Giannoli schöpft bei seiner Adaption die Stimmung der Vorlage dankbar aus. „Hier ist alles Schauspiel“, vermerkt der Erzähler des Films, und rasch zeigt sich die erste Fehleinschätzung des jungen Dichters wie auch seiner Freundin und designierten Förderin.

Die Gesellschaft der 1820er-Jahre schwört nach wie vor aufs Prinzip der Repräsentation; zwar schaut beim Theaterbesuch nicht mehr alles nur auf den König, doch für die Besucher zählen die Blicke auf ihresgleichen weitaus mehr als die auf die Bühne. Dabei ist Luciens Gegenwart ein Störfaktor, sodass sich seine brüskierte Geliebte alsbald von ihm trennt, um nicht selbst ihren Status zu verlieren. Plötzlich allein mit sich und seinen Versen, die sich auch in Paris nicht zu Geld machen lassen, steht der junge Schriftsteller mittellos da, bis sich ihm ein anderer Einsatzbereich für seine Talente bietet. Inmitten des Gesellschaftstheaters gedeiht eine Form von Journalismus, die auf finanziell einträgliche Kontroversen setzt und zu der sich Lucien von dem einschlägig bewanderten Schreiberling Etienne Lousteau drängen lässt. Was freilich heißt, dass diese Art des Erfolgs seine künstlerische Integrität unter sich begräbt.

Balzacs Abrechnung mit der korrumpierten Stadt Paris in der nachnapoleonischen Zeit, dem künstlerischen Ausverkauf und insbesondere mit dem an Kapitalinteressen orientierten Journalismus ist ein Stoff wie gemacht für Xavier Giannoli. Die Analyse der Mechanismen, mit denen das Gesellschaftsgefüge funktioniert, hat das Werk des französischen Regisseurs von jeher geprägt, insbesondere die Frage, wie Inszenierung, Show-Elemente und Schauspiel (im weitesten Sinne) eingesetzt werden, um die Welt erst überlebensfähig zu machen.

Ein neuer Gipfel von Giannolis Kunst

Bei seinen unmittelbaren Auseinandersetzungen mit der Unterhaltungsindustrie hat er das die vielschichtigen Netzwerke aus Interessen ausgeleuchtet, die hinter den Erfolgen eines Schlager-Entertainers in „Chanson d’Amour“ (2006), einer Internet-Berühmtheit in „Superstar“ (2012) und der unbegabten, sich im Besitz einer Opernstimme wähnenden Sängerin in „Madame Marguerite oder Die Kunst der schiefen Töne“ (2015) stehen. Aber auch Giannolis Studie eines Hochstaplers in „Der Retter“ (2009), der zum Hoffnungsträger einer Region aufsteigt und mehr und mehr von den Erwartungen mitgerissen wird, sowie seine Perspektive auf den Umgang mit einer möglichen Wunder-Zeugin in „Die Erscheinung“ (2018) fügten sich nahtlos in sein Oeuvre.

Mit „Verlorene Illusionen“ (2021) erreicht Giannoli nun einen neuen Gipfel, indem der Regisseur die virtuosen Beschreibungen der Vorlage kongenial in elektrisierende Leinwandkunst verwandelt. Die Vielfalt an Tricks einer Presse, die nur auf Effekte und gute Verkäuflichkeit zielt und Falschnachrichten geradezu zelebriert, wie auch die kleinen Dialogspitzen und für die Beteiligten so bedeutsamen Blickwechsel in den Salons malt das Drehbuch von Giannoli und Jacques Fieschi in genüsslichen Szenen aus.

Vor allem aber schwelgen sie und die elegante Kamera von Christophe Beaucarne in den vielfältigen Ausspreizungen des Theaterbetriebs. Neben die Bühnendarbietung tritt die Konkurrenz unter den Schauspielerinnen, das Buhlen um reiche Gönner wie um die Gunst der Kritiker – was entsprechend einen Liebhaber von jeder Sorte erfordert –, die aber beide nichts wert sind ohne die Absicherung durch Claqueur-Gruppen, deren Klatschen, Buhen und Eierwerfen wiederum als eigene Kunstform sichtbar wird.

Ein Meister des Boulevard-Journalismus

Der rasante Aufstieg von Lucien Chardon in diesem System findet ein brillantes Echo in der traumsicheren Handhabung der Passagen, die seinen Triumph visualisieren: Vom Niemand zu einem Meister des Boulevard-Journalismus, dessen neue Bekanntheit kurzzeitig sogar über die gesellschaftlichen Schranken hinwegzuhelfen scheint – selbst die Anerkennung seines Adelstitels verspricht wahr zu werden.

Bei all dem fühlt sich die Geschichte, die „Verlorene Illusionen“ erzählt, nie wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten an. Neben der wachen Aufmerksamkeit des intelligenten Drehbuchs und der Gewandtheit der Inszenierung zeichnet es den Film aus, mit welch tiefem Verständnis er auf das Verhalten der Charaktere blickt, wie fein er sie malt und wie die durchweg großartige Darsteller-Riege ihre Beweggründe zu vermitteln versteht.

Verfilmungen von literarischen Klassikern sind allzu oft nur unzureichende Annäherungen an fremdartige Ausdrucksformen oder steife Kostüm-Modenschauen, sodass man mitunter vergisst, dass es auch Werke gibt wie David Leans Dickens-Adaptionen, Stanley Kubricks „Barry Lyndon“, Martin Scorseses „Zeit der Unschuld“ und nun eben auch Xavier Giannolis Balzac-Adaption. Wobei „Verlorene Illusionen“ ein wahrhaft cineastisches Werk ist, das sich bei der Übertragung auf die Leinwand durchaus beachtliche Freiheiten nimmt. Was für Balzac (auch) eine Aufarbeitung schmerzlicher autobiografischer Erfahrungen war, wird im Film zur zeitlosen Betrachtung eines Daseins angesichts einer unerbittlich urteilenden Öffentlichkeit und der Verführungsmacht vermeintlich leichter Wege. Näher an der Moderne hat sich das 19. Jahrhundert im Kino selten angefühlt.

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