Welch eine Saison der Weltliteratur-Verfilmungen! Zuerst Hermann Hesse und „Narziss und Goldmund“, dann Erich Kästners „Fabian“ und Thomas Manns „Felix Krull“ – und nun Stefan Zweig mit seinem wohl populärsten Werk, der „Schachnovelle“. Was will uns die Filmbranche damit zu verstehen geben? Dass man in ungewissen Zeiten am liebsten auf Nummer sicher geht und (Alt-)Bewährtem vertraut? Oder dass wir alle gerade hemmungslos der Nostalgie frönen und uns willig in schöne und weniger schöne Epochen transportieren lassen?
Sehnsucht nach der „Welt von gestern“ war ja schon immer ein starkes Thema bei Stefan Zweig. Die Zeiten, von denen die „Schachnovelle“ handelt, könnten grimmiger kaum sein. Die Buchvorlage ist ein originelles, packendes Stück Literatur mit guter Spannungsdramaturgie. Für das Werk spricht die frühe und psychologisch stimmige Analyse des „leisen Terrors“ eines totalitären Regimes (hier des Austrofaschismus) sowie der geschickt disponierte Kontrast zwischen Rahmen- (auf dem Ozeandampfer) und Binnenhandlung (in der „Zelle“).
Ganz alteuropäischer Kulturmensch
In der Neuverfilmung durch Philipp Stölzl ist Dr. Josef Bartok (Oliver Masucci) ein Wiener Notar mit notorisch schlechtem politischem Instinkt. Obwohl er Sachwalter mehrerer bedrohter Firmen und Personen ist, spielt er die Gefahr eines Umsturzes nach rechts trotz etlicher Warnungen großmännisch herunter. Bis es zu spät ist und er in die Fänge des eiskalten, diabolisch agierenden Gestapo-Chefs Franz-Josef Böhm (Albrecht Schuch) gerät, der – ganz alteuropäischer Kulturmensch – im Gespräch über einer Partie Schach versucht, die begehrten Informationen von Bartok zu erlangen.
Als das nichts fruchtet, zieht er andere Saiten auf und interniert Bartok auf unabsehbare Zeit in Einzelhaft in einem Zimmer des Hotels Metropol – ohne Aussicht, geistige Anregung und menschlichen Austausch. Wie zum Hohn und als Sinnbild für diese Folter des Kommunikationsentzuges ziert ein Telefon das Zimmer – ohne Freizeichen! In den spärlichen Verhören bleibt Bartok standhaft, doch er droht beinahe den Verstand zu verlieren, wenn er nicht bald ein Ziel für seinen ums Nichts kreisenden Geist findet.
Wie filmt man Langeweile?
Wie beschreibt oder – noch kniffliger – wie verfilmt man Langeweile? Über Wochen und Monate hinweg? Die Kamera von Thomas W. Kiennast verfremdet die Bühne expressionistisch. Oliver Masucci leistet darstellerisch Erstaunliches in seiner Verwandlung vom leicht blasierten Weltmann zu dem beinahe entmenschlichten Gefangenen. Es gelingt ihm, mit äußerster Mühe ein Buch zu entwenden. Wie sehr wünscht er sich Gehaltvolles, etwa die „Odyssee“. Doch es ist nur ein Schachbuch. Nichts weiter als eine trockene Darstellung etlicher Meisterpartien. Mithilfe von Brotkügelchen formt Bartok Figuren und beginnt die Partien nachzuspielen. Diese (einzige) Beschäftigung betreibt er bald so manisch-exzessiv, dass er einen vollständigen Zusammenbruch erleidet. Ein wohlmeinender Arzt bescheinigt ihm Unzurechnungsfähigkeit, sodass er freikommt. Er lässt die alte Welt hinter sich und begibt sich an Bord eines Schiffes, um in die neue zu fahren.
Es gelingt dem Drehbuch von Eldar Griogrian, Motivzusammenhänge geschickt wiederaufzugreifen oder neu zu stiften. Bartok empfindet sich nun selbst als Odysseus auf Irrfahrt, und seine bescheidene Kajüte verwechselt er schon mal mit seiner vorigen Behausung. Dass er tatsächlich seelisch nicht gänzlich unbeschadet davongekommen ist, beweisen seine wiederholten fantastischen Schübe, in denen er nicht nur das bessere Früher, sondern auch sehr plastisch seine Frau (Birgit Minichmayr) imaginiert, obwohl ihr weiterer Verbleib völlig ungeklärt ist. Die „Schachnovelle“ gerät darüber zur „Traumnovelle“, Frau Bartok zur modernen Penelope.
Die Flucht ins Bildungsbürgerliche
Erzählung und Film runden sich thematisch, als Bartok schließlich unter den Passagieren auf den amtierenden Schachweltmeister trifft, der sich in Simultanpartien herausfordern lässt. Spätestens allerdings, als es sich hierbei wiederum um den Gestapomann Böhm handelt (eine Doppelrolle für den wandlungsfähigen Albrecht Schuch), wird der Zweifel geschürt, ob es für Bartok je ein Entrinnen geben könne oder ob die gesamte Fluchtepisode nur Frucht seiner überreizten Fantasie und der diagnostizierten „Schachvergiftung“ sein mag. Das albtraumhafte Ende spricht jedenfalls eine poetisch klare Sprache.
Die neue „Schachnovelle“ ist eine ambitionierte Literaturverfilmung mit einigen intelligenten Variationen der Originalvorlage und durchweg guten bis sehr guten Darstellern. Aufgrund der klassisch behandelten Thematik (Schach) und Transpositionen des Stoffs ins noch Klassisch-Bildungsbürgerlichere („Odyssee“) steht jedoch zu befürchten, dass sie ihr Publikum eher unter gereiften Studienrät:innen als etwa unter Schülern und Jugendlichen finden wird. Es ist wie so oft in der Kirche: Die Predigt hören zumeist die ohnehin Bekehrten.