„Und? Was führt sie nach Sodom und Gomorra?“, lautet einer der ersten Sätze, die Fabian zu Cornelia sagt. Sodom und Gomorra, das ist das Nachtleben von Berlin, genauer gesagt ein Lokal, in dem alles möglich ist oder möglich gemacht wird: sexuell, musikalisch, „bewusstseinserweiternd“ oder „sub- und supraatomar“, wie es Fabians Zeitgenosse Gottfried Benn einmal formuliert hat. Dann reden die beiden, die ein Liebespaar werden müssen, und das eigentlich auch schon wissen, über Engel. Schließlich hat er in ihr, mitten in diesem Sündenpfuhl, einen solchen gesehen. „Unsere Zeit ist mit den Engeln böse, nicht?“, fragt sie. Er kann nicht widersprechen.
Es ist ein ständiges Hin und Her zwischen hohem Ton und schnoddrigem Ausdruck, zwischen Absicht und Einsicht, Fressen und Moral. „Memoiren eines Moralisten“, hat Erich Kästner seinen „Fabian“ genannt, nachdem ihm sein Verleger klargemacht hat, dass er den Roman nicht „Der Gang vor die Hunde“ nennen durfte, und auch sonst vieles politisch oder sexuell Explizite gestrichen werden musste.
Eine Liebesgeschichte, frei nach Kästner
Der Regisseur Dominik Graf greift die ursprüngliche Fassung des Buches auf, und formt aus ihr, „frei nach Kästner“, den Kinofilm „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“. Eine Liebesgeschichte, die auch zum Verzweifeln ist, aber immer pragmatisch, nie melodramatisch, also echt und zeitgemäß, nicht „ausgedacht“.
Alles spielt unter Akademikern, einer in jenen Jahren der Weltwirtschaftskrise und des politischen Extremismus unverhofft prekär gewordenen Klasse. Es gibt drei Doktoren: Fabian, Dr. Jakob Fabian, Germanist, der Kästner vielleicht nicht so unähnlich ist, und sich jetzt als Werbetexter, „Propagandist“ und Gelegenheitsjournalist durchschlägt und sich fortwährend in einem kleinen Heft Notizen über alles macht, die in etwas Größeres münden sollen.
Cornelia, Dr. Cornelia Battenberg, Juristin, was der nützlichere Beruf in einer Zeit ist, in der selbst die Liebe noch zum Vertragsverhältnis wird – bis zu dem Punkt, dass in „Fabian“ eine fremdgehende Ehefrau dem Liebhaber vor dem Geschlechtsverkehr einen die Folgen regelnden Vertrag zur Unterschrift präsentiert. Cornelia arbeitet in der Rechtsabteilung eines großen Filmstudios in Babelsberg, aber auch sie träumt von etwas Höherem: Sie möchte Filmschauspielerin werden. Ihr Chef macht ihr Hoffnungen, wenn auch, wie sie sofort durchschaut, vielleicht nur aus Eigennutz und Interesse an ihren äußeren Reizen.
Und dann ist da noch Labude, Dr. Stephan Labude, Fabians bester Freund, der einen reichen Rechtsanwalt zum schlechten Vater hat (wieder Juristen!) und gerade seine germanistische Habilitation über Lessing beendet, ebenso eine Verlobung in Hamburg. Jetzt ist Labude, zwischen Weltschmerz und Utopie hin- und hergerissen, doppelt Aktivist: tagsüber kommunistisch und nachts hedonistisch. Labudes Idealismus, Cornelias Pragmatismus, und Fabians Ironie bilden den inneren Dreiklang dieser Geschichte. Sie bestimmen zugleich die freundschaftliche Spannung, die zwischen den Figuren herrscht, die sie zusammenhält und doch immer wieder voneinander entfernt.
Drei Figuren in einer unglücklichen Zeit
Der Roman „Fabian“ ist für die damalige Zeit ziemlich ungewöhnlich und wurde in seiner Bedeutung unterschätzt. Für den Film bildet er trotzdem nur das Material zu etwas ganz Eigenem. Denn dies ist keine typische Literaturverfilmung. Vielmehr ein überraschend zärtlicher und intimer, aber auch immer wieder stiller Film. Die Ausstattung ist großartig, aber es wird nie mit ihr geprotzt. Es fehlen alle Klischees, die man seit „Cabaret“ normalerweise mit „Weimar“ und der „Prä-Nazizeit“ verbindet. Wo solche Bezüge sein müssen, bleiben sie dezent.
Stattdessen ist „Fabian“ ein Film, der ganz um seine zwei bis drei Hauptfiguren herum zentriert ist. Um einen jungen Mann, der optimistisch und positiv denkt, aber in diesem Optimismus zugleich verzweifelt. Der in der späten Weimarer Republik, also mitten in der Weltwirtschaftskrise, in Berlin zu überleben versucht. Die Verhältnisse sind unglücklich und werden noch unglücklicher, als Fabian arbeitslos wird. Zugleich sind sie glücklich, denn Fabian verliebt sich in Cornelia und diesmal meint er es ernst.
Vieles wird von den Darstellern getragen. So zentral Meret Becker als Anwaltsgattin Frau Moll und Albrecht Schuch als Labude in bestimmten Momenten für den Film auch werden, so prägnant und einprägsam ihre Figuren gezeichnet sind und lebendig werden, so sehr ist dies doch der Film von Tom Schilling als Fabian und Saskia Rosendahl als Cornelia. Ihre beiden Figuren sind Menschen, die zugleich Personen der Epoche sind wie Individuen aus dem Hier und Jetzt. Bis zum Schluss überraschen sie, zeigen fortwährend neue Facetten, neue Ausdrücke. Das Leben scheint sich in sie, in ihre Gesichter und Körper einzuprägen, ihre Bewegungen mitzugestalten und von ihren Blicken erwidert zu werden. Bis zum Schluss mischen sich Trauer und Euphorie, Leid und Hoffnung. Allein das ist in beiden Fällen eine phänomenale Leistung.
Die Kamera von Hanno Lentz tut ein Übriges mit ihren Tempiwechseln, die pulsierend auf das eingehen, was sie beobachten. Die Kamera tanzt mit den Figuren und den Objekten, ist ständig in leichter, nie aufdringlicher Bewegung. Dazu gehören auch Passagen auf Super 8-Film, die den Bildern für Augenblicke etwas Raues, Grobes, eine vom Kies und Asphalt der Straßen durchzogene beiläufige Atmosphäre geben – analog zu den sogenannten „Asphaltfilmen“ jener Zeit. Die überzeugende Montage von Claudia Wolscht verknüpft die Bilder immer wieder organisch mit kurzen dokumentarischen Einschüben, für die sie sich aus dem bekannten dokumentarischen Archivmaterial bediente.
Das Weimarer Kino und Georg Wilhelm Pabst
Ein wichtiges Thema sind die zahlreichen indirekten, oft sehr beiläufigen Bezüge auf das Kino der Weimarer Republik, das noch immer das Fundament der deutschen Filmgeschichte bildet. Insbesondere Georg Wilhelm Pabst ist eine geheime Referenz für Grafs Blick auf die Weimarer Epoche. Dazu gehört auch die Übertragung des bei Kästner zwischen den Zeilen immer präsenten Stils der Neuen Sachlichkeit auf den Film. Er kulminiert in der Figur des Flaneurs – Fabian ist ein solcher passiver Beobachter, ein Ironiker, dessen Existenz von Handlungshemmungen ebenso durchzogen ist wie von einer voyeuristischen Lust am Hinschauen. Die mitunter fetischistisch aufgeladene Lust an den Objekten, am Eintauchen auch in Gegensätzliches, im streifenden Vervielfältigen der eigenen Lebenserfahrung, gehört zur prototypischen „Weimarer Erfahrung“, in der Begriffe wie „Kult der Zerstreuung“ aufkamen und Konsum mit einem Mal zum positiv konnotierten Alltagsvergnügen wurde. Sie gehört aber auch zu unserer Gegenwart, zur Wahrnehmung der Welt als einen „Flow“, eines Bewusstseinsstroms, und zur Existenzform des Driftens, wie sie seit einem Vierteljahrhundert zur genuin (pop-)modernen Erfahrung geworden ist. Alles dies ist in „Fabian“ präsent und mitgedacht.
Melancholie und Hedonismus, das Glück des Tages und grundsätzliche Verzweiflung vermischen sich hier zu einem bezaubernd-bittersüßen Porträt einer vergangenen Epoche, die der Gegenwart im Guten wie im Schlechten ziemlich ähnlich sieht. „Fabian“ ist ein trauriger und zugleich wunderschöner Film. Überraschend, berückend in der Weise, in der er die Vergangenheit nie verleugnet, doch Gegenwärtigkeit herstellt. Nie sieht etwas wie eine Kulisse aus, immer ist es anfassbar, haptisch, materiell. Vielleicht ist es die größte Kunst des Filmemachers Dominik Graf, Vergangenheit so greifbar zu machen, als wäre sie gegenwärtig.
Alles geht bergab und vorbei
In Grafs riesigem Oeuvre – über 50 Filme für Kino und Fernsehen sowie Serien und Serienfolgen – gehört dieser Film zum Besten und Originellsten. Es ist verblüffend, wie Graf sich immer weiterentwickelt. Zugleich fügt sich „Fabian“ über gewisse Leitmotive in sein Gesamtwerk. Das Interesse an Dreier-Konstellationen, die erotisch zumindest aufgeladen sind; der nüchterne, realistische, aber nie naturalistische Blick auf Verhältnisse; die Genauigkeit, mit der Orte ausgewählt und eingerichtet sind und Teil der Inszenierung werden; eine Schönheitsvorstellung, der alle Glätte fehlt; die Bereitschaft, im Wirklichen auch etwas Utopisches zu sehen, im Kleinen auch das Exemplarische, Große, Universale. Schließlich der empathische Blick auf die Jugend, auf Aufbruch und Zukunft. Und ein unverhohlenes Wissen um Vergänglichkeit: Die Zeit der Jugend oder eines Zeitalters, die im Kino kurz und prägnant beschworen werden, aber eben nie ganz eingeholt werden kann. Deshalb sind noch die schönsten Bilder von einer melancholischen Trauer durchzogen, aber nie von Nostalgie.
Nostalgie empfindet Graf höchstens für die Gegenwart, die wie von fern im Spiegel seines Weimar-Films aufscheint. Grafs Wissen ist ein Wissen darum, dass die Vergangenheit sich wiederholen kann und dass auch die gegenwärtigste Erfahrung eines Tages vom Wind der Geschichte verweht sein wird. Alles geht bergab und vorbei; oder, wie es im Roman heißt: vor die Hunde.
Am Ende sieht man ein Feuer. Ein kleiner Junge wärmt seine nassen Klamotten mit dem Heft, in dem Fabian seine Notizen festgehalten hat. Dieses Heft hat man den Film über oft gesehen. Jetzt sieht man das Feuer, in dem alles, was notiert wurde, alle Gedanken, Gefühle und Empfindungen, verschwinden; was bleibt, ist die Sehnsucht. Die Sehnsucht von Cornelia, die zur gleichen Zeit im Café sitzt, wo sie Fabian erwartet. Sie werde jetzt jeden Tag kommen, um drei Uhr, sagt sie zum Kellner voller Gewissheit, dass ihr Geliebter eines Tages zu dieser Zeit den Raum betritt. Sie weiß so wenig wie alle Menschen damals, dass wenige Monate später nicht nur die Notizen eines nicht besonders erfolgreichen Werbetexters verbrannt würden, sondern dass das Feuer ganze Bücher erfassen wird, Häuser, Menschen, ein Land und schließlich ganz Europa.