Ein weißes Blatt Papier, darauf der Grundriss einer Wohnung: Schlafzimmer, Zimmer, Bad, Küche, vier leere Kästchen, symmetrisch angeordnet zum Quadrat. Der Ausdruck, ein Geschenk von Mara an ihre Mitbewohnerin Lisa, die in diese Wohnung einzieht, taucht in „Das Mädchen und die Spinne“ immer wieder auf und ist am Ende nicht mehr derselbe - die leeren Flächen haben sich mit bunten Zeichnungen und cartoonhaftem Gekritzel gefüllt, das Papier ist zerknittert und von Rotweinflecken aufgeweicht. Es gibt noch eine weitere Darstellung der Wohnung, die für die wechselnden Aggregatzustände des Films von Ramon und Silvan Zürcher vielleicht noch bezeichnender ist. Mara erzählt, dass sich das pdf-Dokument des Grundrisses plötzlich „zerschossen“ darstellte, mit chaotisch angeordneten Buchstaben und Linien: „Das war schön“. Kurz darauf sei aber alles wieder an seinem Platz gewesen.
Alles gerät in Bewegung
Bewegungen, die sich als Erschütterungen zeigen und Risse ziehen: Lisa verlässt die gemeinsame Wohngemeinschaft mit Mara, um von nun an allein zu leben. Ihr Auszug durchtrennt nicht nur eine über Jahre gewachsene Einheit, sondern erfasst auch das benachbarte Figurengefüge: von Lisas Mutter über den Umzugshelfer Jan bis zu den Nachbarinnen in der alten wie neuen Wohnung. Schon in ihrem viel beachteten Debütfilm „Das merkwürdige Kätzchen“ (2013) komponierten die Zwillingsbrüder Zürcher eine Alltagsgeschichte als Kettenreaktion von Handlungen auf begrenztem Raum. In „Das Mädchen und die Spinne“ ist die Architektur der Erzählung und der Räume noch ausgreifender, verschachtelter; aber auch die Kräfte von Begehren, Anziehung und Abstoßung präsentieren sich umfassender und heftiger.
Mit nur zwei Filmen haben die Zürchers ihr eigene Form des Erzählens gefunden, ein fast schon Reiz-Reaktion-orientiertes Zusammenwirken von Menschen, Dingen, Blicken, Handlungen, Worten, Klängen und Farben. Die meist statische Kamera von Alexander Haßkerl, die die Bilder eng kadriert, wird mit einer extrem dynamischen Inszenierung kontrastiert. Während Lisas neue Wohnung frisch bezogen wird, reihen sich Aktionen – oder Miniaturen von Aktionen – aneinander. Es wird gebohrt, gehämmert, geputzt und montiert, Figuren bewegen sich durchs Bild, kommen und gehen; wer hier wer ist und wie mit wem verbunden, erschließt sich erst mit der Zeit. Zwischen den Anwesenden, zu denen neben Lisa, ihrer Mutter, Mara und dem Mitbewohner Markus noch weitere Figuren hinzukommen, zirkulieren Blicke und Berührungen, mal zärtlich, mal abweisend und hart. Aber auch Wunden, Schnitte und Scherben spielen eine wiederkehrende Rolle. Zentrales Element der Zürcher’schen Mechanik ist neben den Menschen die Objektwelt. Dinge werden abgestellt, weggeräumt oder an die nächste Figur weitergegeben, Geräusche werden gemacht und Sätze gesagt, die häufig wie abgestellt wirken, manchmal auch grausam: „Die Katze hat das Baby gekratzt“ – „Jetzt ist das Baby tot“.
Ähnlich wie die Dinge im Film, die ständig kaputtgehen und repariert werden, auseinandergenommen und wieder aufgebaut werden, ist auch die Erzählung ein kontinuierlicher Montage- und Demontageprozess. Räumliche Erweiterungen entstehen durch das akustische Off – eine elaborierte Geräuschproduktion aus aufeinander folgenden oder auch synchronen Tönen von Gehämmere und Geklappere, Baulärm, Hundegebell und „sprechenden“ Objekten wie etwa einer hartnäckig fiependen Thermoskanne. Zudem brechen kurze Erinnerungen und Träume in die Erzählung ein und bringen die Handlung vorübergehend zum Stehen. Sie nehmen sich wie Inseln im Gegenwartsraum aus oder anders gesagt: wie kurzzeitig gebündelte Materie, die sich sofort wieder verflüchtigt.
Viele Formen des Begehrens
„Das Mädchen und die Spinne“ ist mal komisch, mal abgründig, mal leicht, mal beschwert, mal magisch und märchenhaft, mal profan und immer besonders. Beiläufigkeit trifft auf Ereignishaftigkeit, Bewegung auf Stillstand, Nähe und geteiltes Erleben auf Distanz und Einsamkeit. Dabei sind die Formen des Begehrens und der Sehnsüchte vielfältig und werden gewollt ambivalent gehalten. Alles ist in Bewegung, pendelt und schwankt und bricht doch nicht ganz aus der Fassung – „als halte eine geheime Kraft die Dinge zusammen“.