A River Runs, Turns, Erases, Replaces

Dokumentarfilm | USA 2021 | 87 Minuten

Regie: Shengze Zhu

Bilder aus der chinesischen Stadt Wuhan, zumeist in ruhigen Totalen fotografiert, die vor und nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie aufgenommen wurden und um den Fluss Jangtse gruppiert sind, der die Stadt zerteilt. Die dialogfreie Ode verwebt das Gewimmel der Moderne und die Leere der Pandemie mit Briefen von Angehörigen an ihre Corona-Toten. Persönliches und Kollektives verbindet sich zum Panorama einer trauernden und zugleich widerständigen Metropole im permanenten Umbruch. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
A RIVER RUNS, TURNS, ERASES, REPLACES
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Burn the Film
Regie
Shengze Zhu
Kamera
Shengze Zhu · Yang Zhengfan
Schnitt
Shengze Zhu
Länge
87 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Stille Ode an die Stadt Wuhan, die dialogfreie Bilder entlang des Flusses Jangtse mit Briefen von Angehörigen an ihre Corona-Toten zum Panorama einer trauernden und gleichzeitig widerständiger Metropole vereint.

Diskussion

Die Briefe werden nicht vorgelesen, sie legen sich in chinesischen Schriftzeichen über die Leinwand. Auf der Bild- wie auf der Tonspur ändert sich nicht viel, nur dass man nun auch noch Untertitel zu lesen hat. Der dialogfreie Film „A River Runs, Turns, Erases, Replaces“ von Shengze Zhu besteht ausschließlich aus Totalen, die Szenen städtischen Lebens zeigen, doch mit diesen Briefen, mit dem Lesen der Untertitel, ändert sich sein Charakter gehörig.

Schriftzeichen legen sich auf die Bilder

Als zum ersten Mal ein solcher Brief das Bild eines Brückenbauprojekts untermalt, hält man es noch für möglich, dass die Adressatin vielleicht einfach in einer anderen Stadt wohnt. Erst allmählich, als die Zeilen zunächst rätselhafter, dann aber immer schmerzhafter werden, wird klar: Hier richtet sich ein Lebender an einen toten Menschen. Nimmt Abschied, stellt sich vor, wie das wäre, wenn die andere Person noch da wäre.

Die sogenannten Corona-Toten und ihre eigentümliche Abwesenheit im öffentlichen Diskurs wurden während der Pandemie immer mal wieder zum Thema, aber selten für eine längere Zeit. Sie tauchen vorwiegend als Statistik auf, als eine der vielen Kurven, die für jedes Land täglich aktualisiert werden. Es braucht schon die Anstrengung Einzelner, um sie sichtbar werden zu lassen. Die New York Times widmete ihnen im letzten Jahr eine Sonderausgabe, erzählte einige ihrer Schicksale; in Deutschland gibt es in vielen Städten immerhin Orte, an denen man Kerzen anzünden und Blumen hinlegen kann. Doch von einer öffentlichen Trauer ist man in der Regel noch weit entfernt.

„A River Runs“ ist auch deshalb ein kluger Film, weil er die Schicksale der Toten und ihrer Angehörigen nicht einfach sichtbar macht, sondern gewissermaßen in den öffentlichen Raum injiziert. Denn der Film ist nicht nur ein Requiem, sondern zugleich eine Ode an die Stadt Wuhan. Die ersten Bilder stammen zwar noch von einer Überwachungskamera und zeigen eine Fußgängerzone während des ersten Lockdowns, also eine Zone ohne Fußgänger. Doch dann übernimmt das städtische Leben zumindest wieder diesen Film, wenn auch in zurückgenommener Form: Die Skyline der Stadt, die für eine Lichtinstallation dient; winzige Punkte von Menschen, die im Fluss baden; riesige Bagger, die an der Stadtautobahn werkeln; Hunde, die sich an der Uferpromenade begrüßen. Nicht der oder die Einzelne zählt hier, sondern die Stadt selbst, als gemeinschaftliches Leben.

Der Jangtse und die vielen Brücken

Das Gemeinsame der Bilder ist der Fluss aus dem Filmtitel, der in fast jeder Einstellung auftaucht. Der die Stadt Wuhan teilende Jangtse ist riesig; die Brücken sind entsprechend mächtig. In den Briefen ist manchmal von einer Vergangenheit die Rede, in der es diese Brücken noch nicht gab, in der einzig und allein die Schiffe die beiden Ufer verbanden. Auch diese Schiffe fahren gerne mal durchs Bild, sie kommen dem Rhythmus des Films am nächsten. Denn „A River Runs“ ist zwar ein ruhiger, langsamer, beobachtender Film, aber glücklicherweise völlig frei von jener ausgestellten Langsamkeit. In den Einstellungen, die Zhu findet, ist immer etwas los. Sie sind bestimmt genug, um als eigenständige Welten zu interessieren, aber auch offen genug, um zu eigenen Assoziationen und zum produktiven Abschweifen einzuladen.

Zhu, die selbst aus Wuhan stammt, aber in Chicago lebt, hatte sich zuletzt in ihrem preisgekrönten „Present.Perfect“ (2019) dem Live-Streaming-Hype in der chinesischen Gesellschaft gewidmet. Der Film bestand vorwiegend aus privaten, ins Internet übertragenen Szenen. Ihr neuer Film könnte also kein größerer Sprung sein: von Webcam-Bildern in die großen Totalen, von persönlichen Geschichten in die kollektive Erfahrung der Pandemie. Und doch ist in beiden Filmen Gesellschaft als Mosaik denkbar, das Internet wie Wuhan als Netzwerke, denen die Filmemacherin mit ihrem Film ein schützendes Dach spendet.

Schmerz, Leere und Trost

In seiner Dialektik aus Fortschritt und Abschied bearbeitet „A River Runs, Turns, Erases, Replaces“ die Trauer um die Corona-Toten ähnlich wie die Bagger die Baustellen: mit ruheloser Geduld. So viel Schmerz, wie aus den Briefen spricht, so tröstlich sind die Briefe selbst: trauergefärbte Erinnerungen, verzweifelte Wünsche, Selbstgespräche, aber alles voller Leben. Es kommt nicht als oberkluge Idee daher, sondern erscheint ganz und gar angebracht, dass keine Stimme diese Briefe vorliest, dass diesen Geschichten keine Gesichter zugeordnet werden, sondern dass sie einfach die Stadt untertiteln.

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