Die entscheidende Frage hebt sich der Film von Christian Schäfer bis zum Schluss auf. Da verliert eine Mutter die Fassung und fragt ihren Sohn: „Was bist du nur für ein Mensch, Paul?“ Das ist eine gute Frage. Zumal, weil sie gar nicht so einfach zu beantworten ist. Und ganz bestimmt nicht von Paul (Jonas Holdenrieder). Der hat nämlich in den ganzen Film über vorzüglich an seiner Unsichtbarkeit und Ungreifbarkeit gearbeitet, obwohl er fast permanent im Bild war. Wobei: So ganz richtig ist das dann doch nicht, denn ab und an hat er schon ausgetestet, wie es sich anfühlt, wenn man mal eine Meinung zu etwas hat. Oder zumindest die Meinung von jemand anderem ansatzweise bestätigt.
Der Schulunterricht ist für Paul „Halbschlaf“, der Sportverein „Grillfest“. Ohnehin hält es „Trübe Wolken“ sehr lange in der Schwebe, in welche Richtung der Film gehen will. Notizen aus der Provinz, wo so rein gar nichts passiert. Da kann man dann schon auf die Idee kommen, nachts Steine von Brücken auf vorbeifahrende Autos zu werfen – und das Ganze dann zu filmen. Schließlich muss die Lokalpresse etwas zu schreiben haben. Aber sonst? Das Leben hier ist ein Witz, der reine Horror.
Ein Faible für verlassene Orte
Paul ist ein Beobachter, ein Flaneur und Voyeur mit einem Faible für verlassene Orte, der gerne in den Sachen fremder Menschen stöbert. Auf allen Personen, denen Paul begegnet, scheint etwas zu lasten. Auch sie scheinen sich fehl am Platz zu fühlen. Etwa die sehr verspannte Leiterin der Theater-AG an der Schule, die davon träumt, dass ihre Eleven sich mal locker machen. Oder der sinistre und mitunter Gottfried Benn oder auch „die Eisnerin“ zitierende Lehrer Bulwer, der zu Paul unvermittelt Sätze sagt wie: „À propos degeneriert. Was hältst du eigentlich vom Lehrplan, Paul?“ Die theateraffine Mitschülerin Dala ist Paul bislang gar nicht aufgefallen. Und da ist der neue, leicht flamboyante Mitschüler David, der unter dem „Provinzfetisch“ seiner Mutter leidet und sehr viel lieber in Berlin unterwegs wäre. David, der nun wohl hier in dieser Gegend leben muss, fragt Paul einmal: „Willst du mein Guide sein?“ Paul will, aber auch nicht so richtig. Weil es auch gar nicht so viel zu zeigen gibt.
Schließlich ist da auch noch Pauls Familie mit der dominanten Mutter, dem schweigsamen Vater und dem immer leicht rebellischen jüngeren Bruder Silas, die auf eine bedrückende Weise intakt und kaputt zugleich ist. Wenn Paul nicht durch die Gegend stromert, zieht er sich in sein Zimmer zurück, das offenbar niemand betreten darf.
Eine allumfassende Unzufriedenheit
Der Spielfilm ist eine Ausstattungsorgie, in der jedes von Kamerafrau Sabine Sina Stephan brillant in Szene gesetzte Detail die Tristesse der mittelhessischen Provinz atmet. Es herrscht eine allumfassende Unzufriedenheit und ein Ungenügen, die sich notdürftig als Normalität, als Grillfest eben, verkleidet. Irgendwann lässt sich die Gewaltförmigkeit der Verhältnisse aber nicht mehr unter den Teppich kehren. Unheil liegt in der Luft. Es werden Steine von Brücken auf Fahrzeuge geworfen. Dann verschwindet ein Junge. Gottfried Benns „Schöne Jugend“ wird zitiert, eine Sammlung von Tierpräparaten mit Rehkitz zum Treffpunkt und Leni Riefenstahl als Reichsgletscherspalte geoutet.
Obwohl Paul entschieden an seiner Unsichtbarkeit arbeitet, hat er plötzlich etwas anzubieten. Er wird überraschend entdeckt. Vom kunstsinnigen Lehrer Bulwer und auch von der Möchtegern-Schauspielerin Dala. Vielleicht ist die Projektarbeit kurz vor dem Schulabschluss tatsächlich die Chance, die Paul in Bewegung setzt. Seine Mutter könnte sich Jena als Studienort vorstellen. Als habe er die Patricia-Highsmith-Figur des Tom Ripley verstanden, spürt Paul, dass seine fortgesetzte Passivität wie eine Projektionsfläche wirkt, die ihn nur noch interessanter macht.
Der Schrecken des Erwachsenwerdens
Der Film nach einem Drehbuch von Glenn Büsing hält es genauso, liefert atmosphärisch Material und Indizien, gönnt sich aber den Luxus loser Handlungsfäden und unbestimmter Bilder. Die Filmemacher haben als Inspirationsquellen treffend auf die Filme von Gus van Sant und der „Berliner Schule“ verwiesen. Ganz am Schluss gewährt Paul einen Blick in sein Kinderzimmer. Was da zu sehen ist, erzählt mehr vom Schrecken des Erwachsenwerdens als Dutzende Filme, die dies vorzugsweise komödiantisch auflösen.