Routine ist ein Beziehungskiller, heißt es immer. Für Rory und Allison O’Hara scheint das jedoch zu funktionieren: Die beiden haben ein Bilderbuchleben – er ist Investment-Banker an der Wall Street, sie ist Pferdetrainerin und Reitlehrerin. Ihre beiden Kinder sind im High-School-Alter. Doch als Rory ein Jobangebot aus London bekommt, kippt die Stimmung schnell: schon wieder ein Umzug, schon wieder ein Neuanfang. Allison ist angefressen.
Der amerikanische Filmemacher Sean Durkin machte 2011 mit „Martha Marcy May Marlene“, der beklemmenden Psychostudie einer Sektenaussteigerin, auf sich aufmerksam und legt nun seinen zweiten Film vor. „The Nest“ ist ein regelrechtes Slow-Burn-Drama, denn hier scheint die Fassade der Bilderbuchfamilie in Echtzeit vor dem Auge des Betrachters zu bröckeln: Was als Neuanfang für die Familie gedacht ist, wird für die O’Haras zum Auslöser des langsamen Verfalls.
Aus den Reagonomics rein in den Thatcherismus
Geld treibt in diesem Film alles an, das wird schnell deutlich: Der Umzug nach London bringt den gebürtigen Briten Rory nicht nur zurück in seine Heimat, sondern auch in seine alte Firma, in der er eine neue Abteilung übernehmen soll. Aus dem New York der 1980er-Jahre bringt er die Nonchalance der Wall Street mit, die unorthodoxen Geschäftsmethoden, die das alte System aufrütteln sollen. Aus den Reagonomics rein in den Thatcherismus – für Rory ein folgerichtiger Schritt. Dass diese Beförderung sich auch privat rentieren soll, steht fest, deshalb mietet Rory ein riesiges Anwesen in Surrey, auf dem Allisons Pferde ebenso wie die Familie Platz finden und sich wohlfühlen sollen. Rory sucht das Neue im Alten, glaubt fest daran, dass diese vermeintliche Veränderung der Familie nützen wird.
Durkins Film ähnelt strukturell einer klassischen Short Story, deren offensichtliche Handlung nur an der Oberfläche kratzt, aber einen regelrechten Berg an Emotionen und Beziehungsgeflechten darunter verbirgt. „The Nest“ ist ökonomisch und präzise in der Erzählweise. Dabei kann und muss Durkin sich auch auf sein Ensemble verlassen, allen voran Jude Law und Carrie Coon als Rory und Allison. Jude Law bewegt sich als Familienoberhaupt
irgendwo zwischen dem Charme eines abgehalfterten Gatsby und der Hybris von Jordan Belfort und Gordon Gekko, ist ein sensationeller Verkäufer und wirkt mit seinem Werbegrinsen und den ausladenden Gesten sogar beim Einzug in das neue Heim mehr wie ein Makler als ein Familienvater.
Die Fassade bröckelt
Er ist so damit beschäftigt, wohlhabend zu wirken, dass er die Realität ausblendet – er lebt schlichtweg auf zu großem Fuße und lässt sich deshalb auf riskante Deals und Abmachungen ein, die an Glücksspiel und Betrug grenzen. Auf seine Selbsttäuschung stößt ihn dann ein Taxifahrer, von dem er sich nach einem feuchtfröhlichen Abend aufs Land hinausfahren lässt. Der quittiert seine Beteuerungen, was für ein guter Vater er sei, schlichtweg mit einem „Genug. Wir sind durch.“ Der Satz hallt nach, als meinte er nicht nur Rorys Qualitäten als Ehemann und Vater.
Vor allem jedoch ist es Carrie Coons Auftritt als Allison, der lange nachhallt. Deren langsames Verstehen, dass Rory sich eine Fassade aufgebaut hat, die in sich zusammensackt und ihr Familienkonstrukt gleich mit einreißt, ist eine Lehrstunde der effektvollen Unaufdringlichkeit. Dabei erinnert sie bisweilen an Gena Rowlands Rollen in den Filmen, die diese mit John Cassavetes machte: Zurückgenommen und beinahe abgeschottet ist sie, hadert immer mehr mit ihrer Rolle als Ehefrau, die sich um die Finanzen und Probleme der Familie nicht zu sorgen hat. Ihr Ausbruch verläuft parallel zu Rorys Zerfall, beinahe quälend langsam, ein Psychothriller in Slow Motion.
Haunted-House-Anmutung
Durkin inszeniert das alles als sehr kontrolliertes Drama, streut jedoch immer wieder vorsichtig Genre-Tropen ein, um den beobachtenden Blick und die Erwartung aus der Reserve zu locken: Vielleicht ist das hier doch ein Horror-Film, ein Schauermärchen? Das Setting würde das jedenfalls nahelegen, denn in dem Herrenhaus im Stil der Neo-Renaissance, in das die O`Haras ziehen, knarzt und raschelt es unentwegt, Schatten huschen durch die leeren Treppenhäuser sowie Hallen und über den Feldern hängt der Nebel. Der Zerfall des Hauses scheint ansteckend und infiziert das Familienkonstrukt, das schon lange kleine Risse und Brüche gehabt zu haben scheint. Die Routine und die darin liegende Bequemlichkeit, sie scheinen hier nicht der Beziehungskiller gewesen zu sein, sondern der Kitt, der das brüchige Gerüst zusammengehalten hat.
Durkin lässt diese Familienkrise letztlich nie ins Genre abdriften, sondern bleibt bei der Einsamkeit und Bedrücktheit seiner Figuren. Der Film scheint damit zu suggerieren: Es könnte alles noch schlimmer werden, aber die Realität ist für diese Familie schon Elend genug. Das Familienkonstrukt bleibt also weiter in der Schwebe, doch hat sich eines geändert. Alle vier wissen sie um die Risse und können aktiv mit ihnen umgehen – eine Erleichterung ist diese Realisierung und vielleicht sowas wie ein Happy End in ihrer Welt.