Es war einmal vor langer Zeit – oder erst vor Kurzem? An der Wand der Hütte mitten im Wald, in der der Protagonist Tomas (Alec Secareanu) in einer der ersten Einstellungen von Romola Garais Horrorfilm erwacht, lehnt ein Maschinengewehr. Man erfährt also schnell, dass man sich nicht in mythischen Vorzeiten befindet, auch wenn die ersten Bilder vom dunklen Tann, die klagend-schwingenden Frauenstimmen der Eingangsmusik und das Fraktur-Schriftbild der Credits den Film in die Sphäre des Märchenhaften zu verweisen scheinen. Gleichwohl changiert „Amulet“ immer wieder suggestiv vom Realen ins Numinose: Es gibt keine genaue zeitliche und räumliche Verortung, und eine Montage der harten Schnitte deutet Tomas’ Vorgeschichte eher lose-assoziativ in beunruhigenden Bildern an, statt sie auszuerzählen. Man erfährt, dass der junge Mann Soldat ist und in irgendeinem nicht näher definierten Konfliktgebiet, wahrscheinlich irgendwo in Osteuropa, als Grenzposten allein bei einem Schlagbaum im waldigen Nirgendwo die Stellung hält.
Vom Krisengebiet ins „Haunted House“
Dann sieht man Tomas erneut erwachen; diesmal trägt er einen Bart, sieht damit etwas älter aus und liegt in einem anderen Zimmer, anscheinend einer Art Flüchtlings-Unterkunft, wahrscheinlich in England – die zweite und zentrale Erzählebene des Films, in die Garai indes immer wieder Rückblenden in die Zeit im Wald einflicht. Tomas schlägt sich mit ausbeuterischen Jobs auf dem Bau durch; als er nach einem beängstigenden Zwischenfall in der Unterkunft (ein Anschlag?) verletzt wird und sein mühsam erspartes Geld verliert, nimmt sich eine resolute Nonne (Imelda Staunton) seiner an. Oder bemächtigt sich seiner, mit dubiosen Absichten.
Und schon findet sich Tomas in einem „Haunted House“ wie aus dem Bilderbuch wieder, mit morschem Gebälk, abblätternden Tapeten und feucht-schimmeligen Flecken an allen Ecken: Er soll dort, so will es die Nonne, der jungen Magda (Carla Juri) zur Hand gehen, denn die hat eine schwere Last zu tragen. Unter dem Dach hinter Schloss und Riegel haust ein klagendes, unheimliches Etwas, das es zu versorgen gilt. Angeblich ist es Magdas kranke Mutter. Doch Tomas kommen nach diversen bedrohlichen Geschehnissen zunehmend Zweifel an der Natur der geheimnisvollen Kreatur.
Ein Mann, zwei Frauen und der Schatten der Gewalt
Wenn er trotzdem bleibt, liegt das an der zunehmenden Zutraulichkeit von Magda: Zwischen der zunächst spröden Frau und dem Fremden aus dem Kriegsgebiet, der abends in seinem Zimmer an einer Philosophie-Dissertation arbeitet, entwickelt sich etwas, und so reift in Tomas der Wunsch, Magda von dem, was ihr da aufgebürdet ist, zu befreien. Gespiegelt wird diese Beziehung auf der zweiten Erzählebene: Tomas’ einsame Wacht im Wald wird von einer Frau auf der Flucht gestört; der Soldat gewährt ihr Unterschlupf. Mann-Frau-Annäherungen, auf denen freilich von Anfang an der bedrohliche Schatten der Gewalt liegt.
Romola Garai hat sich bisher als Schauspielerin einen Namen gemacht; „Amulet“ ist das Regiedebüt der 1982 in Hongkong geborenen Britin. Und es ist ein inszenatorisch erstaunlich ausgereiftes Erstlingswerk: Virtuos baut Garai mit ihrer elliptischen Erzählweise, der ebenso sinnlichen wie beunruhigend-desorientierenden Vorliebe für Großaufnahmen auf mysteriöse Details und dem Mut, auf der Tonebene der Stille Raum zu geben und Musik und Dialog nur sparsam einzusetzen, eine Atmosphäre konstanter Beklemmung auf, die dann mit fortschreitender Handlung mehr und mehr mit deftigem Body Horror durchsetzt wird, der ein bisschen an David Cronenberg erinnert. Ebenso überzeugt ihre Arbeit mit den Schauspielern: die kammerspielartigen Szenen zwischen Alec Secareanu und Carla Juri beziehungsweise Angeliki Papoulia (in den Rückblenden) sind gleichermaßen zart und spannungsvoll, changierend zwischen der Hoffnung auf Annäherung und latenter Angst.
Hexen-Horror mit feministischer Volte
Der Titel „Amulet“ bezieht sich auf eine archaische Matronen-Figurine, die Tomas zu Beginn als Soldat im feuchten Waldboden findet – eines jener mythischen Fetisch-Objekte, die im Horrorkino immer wieder als Einfallstor des Übernatürlichen in die materielle Welt dienen; es wird zu einer Art Leitmotiv. Zusammen mit der herrlich dominanten Figur von Imelda Staunton und dem lange nur akustisch auftretenden Mutter-Monster im Dachboden bewegt sich der Film damit zunächst sacht, schließlich ziemlich brachial in Richtung Hexen-Horror – um im Finale dann eine ziemlich radikale (aber leider etwas arg an den Haaren herbeigezerrte) feministische Umdeutung der Gut-Böse-Parameter des Genres zu präsentieren. Ein in seinem Herunterbrechen des zuvor beschworenen numinosen Grauens auf eine schlichte Schuld-Sühne-Geschichte maues Ende. Es zerstört aber gleichwohl nicht den Gesamteindruck, dass Garai eine talentierte Erzählerin ist, von der man noch viel erwarten darf.