Man soll einen Film ja nicht nach der werblichen Lyrik beurteilen, die ihm vorauseilt, aber im Falle dieses „exklusiven“ Porträts von Wim Wenders, das aus Anlass von dessen 75. Geburtstag am 14. August 2020 produziert wurde, sei ein Bruch mit dieser Regel gestattet. Dass es sich bei Wim Wenders um einen der Protagonisten des Neuen deutschen Films der 1970er-Jahre handelt, sei unbenommen. Unbenommen aber auch, dass die große Zeit des Neuen deutschen Films spätestens 1984 vorbei gewesen ist und eine Handvoll international anerkannter Filmemacher*innen wie Wenders, Reitz, Herzog, Schlöndorff, Syberberg, Trotta und eventuell noch Dörrie oder Petersen zurückließ. Insofern war der internationale Erfolg von „Paris, Texas“ eher ein verspäteter Nachklapp der experimentierfreudigen 1970er-Jahre, wozu dann auch die Auseinandersetzungen mit dem „Filmverlag der Autoren“ um den bundesdeutschen Kinostart des Films und die Zahl der verfügbaren Kopien passen würde.
Davon ist im Film „Wim Wenders, Desperado“ von Eric Friedler und Andreas Frege allerdings keine Rede. Stattdessen begibt man sich auf die Reise. Auf die Reise zu „ikonischen Drehorten“, die zugleich auch entscheidende Momente in Wenders’ Karriere bezeichnen sollen, und will damit explizit „jene“ ansprechen, die „keine ausgewiesenen Kenner der Arthouse-Filmszene“ sind. Was etwas seltsam klingt, wenn man an die folgenden Auftritte von Rüdiger Vogler, Willem Dafoe, Andie MacDowell, Ed Lachman, Patrick Bauchau, Agnès Godard, Hanns Zischler, Patti Smith, Hark Bohm, Erika Pluhar oder Francis Ford Coppola denkt. Es braucht schon etwas Vertrautheit mit dem Arbeiten von Wenders, um diese Namen in die jeweiligen Kontexte richtig einzuordnen.
Werner Herzog eröffnet die Lobpreisungen
Stattdessen beginnt der Film mit einer echten Überraschung. Es bleibt Werner Herzog überlassen, die Abfolge der Lobpreisungen Wenders’ zu eröffnen. Er, länger dabei und langfristig wohl auch auf mehreren Ebenen erfolgreicher und einflussreicher, spricht davon, dass Wenders schon aufgrund der Zeitspanne seiner Arbeit und der Vielzahl seiner Filme eine Stimme unserer Zeit sei, die man gar nicht wegdenken könne. Wenn er einem jungen Filmstudenten einen Rat geben solle, dann lautete der: „Guck dir Wims Filme an, du Depp!“ Fraglich, angesichts der vielen Spielfilm-Flops Wenders’ während der letzten Jahrzehnte, wie ernsthaft und pädagogisch durchdacht Herzog diesen Rat meint.
Später im Film ergreift dann Herzog das Wort, wenn es darum geht, dem Jungen oder Neuen deutschen Film, diesem ganzen „Sauhaufen“ (Herzog) seine Mittelmäßigkeit und seine Prätention nachzurühmen. Ihn, Herzog, müsse man wohl an den Kinositz ketten, wenn er nur 20 dieser Filme anschauen müsse. Keine Schule, keine Gruppe, so Wenders, habe man damals sein wollen, nur so „Einzelgänger hoch 20“. Jetzt würde man gerne den einzelgängerischen „Filmverlag der Autoren“ ins Spiel bringen, aber Friedler und Frege setzen stattdessen auf eine Montage aus Archivmaterial von Fassbinder, Kluge, Herzog, Lilienthal, Schamoni etc., zu der Ed Lachman die altbekannte These vom staatlich subventionierten Filmwunder, das die BRD kulturell wieder satisfaktionsfähig machte, einmal mehr aufwärmt. Das kann man so machen.
Schwieriger wird es, wenn man dabei zusieht, dass Wim Wenders dazu angehalten wird, bestimmte Film-Szenen an „ikonischen Drehorten“ nachzustellen. Mal die Eingangsszene von „Paris, Texas“, mal eine Szene aus „Don’t come knocking“, mal eine Szene aus „Der Himmel über Berlin“, mal eine Szene aus „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“. Was dieses stets etwas unbeholfen ausgeführte Re-Enactment soll, bleibt das Geheimnis der Filmemacher, zumal sich derlei Spielerei überhaupt nicht mit der Poetik des abenteuerlichen Erzählens verträgt, die Wenders im Gespräch ausführlich und sehr reflektiert rekapituliert. Die Idee des Road Movies vertrug sich bestens mit Wenders’ Anspruch, den Ausgang einer Geschichte erst im Verlauf des Erzählens zu erkunden. Davon zeugen Filme wie „Falsche Bewegung“, „Im Lauf der Zeit“ und später dann auch „Paris, Texas“ oder „Lisbon Story“.
Lektionen in Amerika
Vielleicht, weil es ja den Film „Von einem der auszog – Wim Wenders’ frühe Jahre“ von Marcel Wehn bereits gibt, kapriziert sich „Wim Wenders, Desperado“ nun sehr ausführlich auf die Lektion, die dem Filmemacher mit seinem Traum von Amerika dortselbst erteilt wurde. Nach dem Erfolg von „Der amerikanische Freund“ lud der experimentierfreudige Francis Ford Coppola Wenders ein, in seinem gerade erst gegründeten Studio den Film „Hammett“ zu realisieren. Was dann passierte, beschreibt man am besten als ein den Umständen geschuldetes grundsätzliches Missverständnis. Wenders glaubte zu wissen, wofür er eingekauft worden war. Was sich letztlich als falsch herausstellte.
Obwohl sich Wenders und Coppola ausgesöhnt zeigen, bleibt beispielsweise die Rolle von Wenders’ damaliger Ehefrau Ronee Blakley auffällig unterbelichtet. Coppola insinuiert zumindest, dass sich Blakley durch Änderungen des Drehbuchs selbst ihre Rolle großschrieb. Am Ende wurde „Hammett“ zweimal gedreht und Wenders nutzte die Krise für „Nick’s Film – Lightning Over Water“ (hier unerwähnt) und „Der Stand der Dinge“ (hier als Abrechnung mit Coppola gehandelt). Wims Lehrjahre in den USA endeten dann mit der Heimkehrer-Geschichte „Paris, Texas“, die ihn in eine andere Liga katapultierte – und, hübscher Gedanke, es ihm ermöglichte, selbst „not defeated“ nach Europa zurückzukehren.
Detailreich, aber letztlich unscharf
Wer sich auch nur ein wenig für Wenders interessiert, dem bietet der Film nichts Neues, nur etwas prätentiös aufbereitete Nostalgie. Warum sich aber „Nicht-Kenner der Arthouse-Filmszene“ ins Kino setzen sollen, um detailreich, aber letztlich unscharf alte Anekdoten ausgebreitet zu sehen, bleibt offen. So bleibt zu sagen: großer Aufwand, wenig Ertrag. Wäre da nicht jener Satz von Donata Wenders, die berichtet, dass die Arbeit an den Spielfilm-Sets zuletzt wenig entspannt ablief, während die Dokumentarfilme Wenders noch ein wenig von der alten poetischen Freiheit garantierten.
Und dann ist da noch eine nachgestellte Szene aus dem Essayfilm „Chambre 666“ von 1982, als Wenders seine Kolleg*innen zur Zukunft des Kinos befragte. Jetzt beantwortet er selbst diese Fragen: kurz, bündig und pessimistisch. Dass er damit nicht falschliegt, belegt schon der zynische Sendeplatz, den die ARD dem nicht sonderlich gelungenen Porträt von Friedler/Frege zum 75. Geburtstag eines international respektierten Filmemachers spendiert hat: 23.50 Uhr. Soviel zur Systemrelevanz von Filmkunst.