Zustand und Gelände

Dokumentarfilm | Deutschland 2019 | 118 Minuten

Regie: Ute Adamczewski

Der Dokumentarfilm begibt sich in Sachsen auf Spurensuche nach den ersten Konzentrationslagern, die direkt nach der Machtübernahme der Nazis 1933 eingerichtet wurden. Öffentliche Gebäude und sozialdemokratische Gemeinschaftsräume wurden zu sogenannten „wilden“ Lagern umfunktioniert, um den Widerstand zu brechen und politische Gegner auszuschalten. Das Wissen um diese Orte blieb aber implizit und lokal, auch weil in der DDR keine umfassende Aufarbeitung der NS-Zeit stattfand. Das beklemmend intensive Doku-Essay bringt mit formaler Strenge behördlichen Schriftverkehr, Überlebenszeugnisse und die alltäglich wirkenden Orte der Verbrechen zusammen. So entsteht ein filmischer Reflexionsraum, der das Fortwirken der Gewaltgeschichte bis in die Gegenwart untersucht. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Ute Adamczewski
Regie
Ute Adamczewski
Buch
Ute Adamczewski
Kamera
Stefan Neuberger
Schnitt
Ute Adamczewski
Länge
118 Minuten
Kinostart
17.06.2021
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm

Heimkino

Verleih DVD
absolutMEDIEN (16:9, 1.78:1, DD2.0 dt.)
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Intensiver Doku-Essay über die Spuren der ersten Konzentrationslager, die bereits 1933 errichtet wurden, bei dem behördlicher Schriftverkehr, Überlebenszeugnisse und die alltäglich wirkenden Orte der Verbrechen zusammengebracht werden.

Diskussion

Hinter dem Straßengeländer öffnet sich während einer Autofahrt der Blick auf eine unscheinbare dörfliche Landschaft. Kamine rauchen auf den eng zusammenstehenden Giebeldächern, kahle Baumkronen und immergrüne Tannen säumen die Gartenparzellen der sächsischen Häuser. Eine Stimme aus dem Off beginnt mit der Aufzählung einer Bautypologie. Volkshäuser, Arbeitshäuser, Jugendhäuser, Gasthäuser, Schützenhäuser. Aber auch Schlösser und Burgen haben 1933 ebenso wie Arbeitersporthallen und Fabriken nach einer Verordnung der nationalsozialistischen Regierung zur Durchsetzung einer sogenannten „Schutzhaft“ gedient.

Ab März 1933 konnten Kritiker des Regimes „zum Schutz von Volk und Staat“ umstandslos verhaftet und interniert werden. Über 200.000 Menschen wurden allein 1933 in den ersten Konzentrationslagern festgehalten, zur Zwangsarbeit verurteilt, misshandelt und gefoltert. Gebäude des öffentlichen Lebens wurden dafür umfunktioniert, was zugleich ein wirkmächtiges Signal zur Brechung des zivilen Widerstands darstellte.

In ihrem beklemmend intensiven Doku-Essay „Zustand und Gelände“ gelingt der Regisseurin Ute Adamczewski mehr als nur eine historische Analyse bislang wenig beleuchteter oder vielmehr verdrängter Tatsachen. „Zustand und Gelände“ erschafft einen filmischen Reflexionsraum, in dem das Fortwirken der nationalsozialistischen Gewaltgeschichte bis hin zu den NSU-Morden deutlich wird.

Der Terror im Zentrum der Ortschaften

Die Arbeiterorganisationen waren im Sachsen der Weimarer Republik besonders stark aufgestellt. Ihre Zerschlagung hatte für das NS-Regime unmittelbar nach der Machtergreifung höchste Priorität. Viele der sozialdemokratischen oder kommunistischen Gemeindehäuser wurden dafür besetzt und zu Konzentrationslagern umfunktioniert. Ihre Lage im Zentrum der Ortschaften sorgte dafür, dass der Terror besonders tief in den sozialen Zusammenhang hineinwirkte. Bei ihrer Recherche stieß Adamczewski selten auf Gedenktafeln an den Häusern, die nach der Lagerauflösung nahtlos wieder in zivile Funktionen übergingen. Während die Anwohner sehr wohl die Geschichte der Gebäude kannten, reagierten Bürgermeister und Stadtarchivare oft ausweichend auf Adamczewskis Anfragen.

Auch Denkmäler in den sächsischen Orten haben eine Serie von Umwidmungen erfahren. Einige dienten bereits den Nazis zur Erinnerung an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, wurden dann in der DDR zum antifaschistischen Mahnmal und nach dem Fall der Mauer zur Gedenkstätte „für die Opfer jeglicher Gewaltherrschaft“ umgebaut. Die präzise Kameraarbeit von Stefan Neuberger verdeutlich, wie fragwürdig eine solche Art der Erinnerungskultur ist, die den Krieg zum identitätsstiftenden Moment macht, bis sie schließlich indifferent gegenüber den genauen Umständen der Gewalt wird.

„Zustand und Gelände“ interveniert durch genaue Beobachtungen in diese sich gegenseitig verdeckenden Zeitschichten. Die falsche Gleichsetzung der SED-Diktatur mit der NS-Zeit erscheint als ein Symptom dafür, sich nicht mit der Frage nach der Verantwortung der Einzelnen beschäftigen zu müssen. Diese wurde jedoch auch in der DDR übergangen. Die Konzentrationslager in den Städten blieben unthematisiert.

Unheimlich gleichförmige Orte

Auf den Spuren der ersten Lager hält die Kamera eine beunruhigende Atmosphäre in der Schwebe. Bilder von Gebäuden reihen sich aneinander, hölzerne Fensterrahmen, bröckelnder Putz, nichtssagende Hauseingänge. Man blickt durch Spiegelungen in den Scheiben auf rustikale Einrichtungen, Hirschgeweihe, geschmackloses Mobiliar. In Turnhallen laufen Kinder im Gleichschritt, auf Weihnachtsmärkten und Faschingspartys drängeln sich Menschen zusammen. Kann es sein, dass genau an diesen Orten noch vor 70 Jahren Lager existierten, in denen eine beispiellose Brutalität herrschte? Obwohl es sich nicht genau festmachen lässt, wird durch die unheimliche Komposition der Bilder die anhaltende Latenz der Gewalt spürbar.

Auf der komplex komponierten Tonebene ist hin und wieder ein Rauschen oder das leise Knistern eines lodernden Feuers zu hören, das in Spannung zum Bild tritt. Die stärkste Wirkung geht in „Zustand und Gelände“ jedoch von Schriftstücken aus, die im Off von der Schauspielerin Katharina Meves mit ruhiger Stimme vorgelesen werden. Dabei handelt es sich größtenteils um bürokratischen Schriftverkehr rund um die wilden Konzentrationslager. Damit macht der Film ein Herzstück der Diktatur anschaulich, das sonst zumeist in den Schubladen und Ringordnern der Stadt- und Kreisarchive verborgen bleibt. Die peinlich genau datierten Dokumente verorten die unscheinbaren Filmbilder der Gegenwart historisch. Doch durch die Gleichförmigkeit von Ort und Gelände klafft immer wieder ein Riss auf, der im Zuschauer weiterwirkt.

Nationalsozialistische Sprachverkehrung

Ursprünglich sollten Passanten für den Film die Akten einsprechen, so Adamczewski. Doch als bei einer Probeaufnahme in Dresden eine Frau dabei so heftig zu weinen anfing, dass sie kaum noch zu beruhigen war, überdachte das Filmteam diese Strategie. Zugleich wurde klarer, wie sehr sich die Gewalt in den Texten nicht nur zwischen den Zeilen manifestiert. Die faschistische Sprachpraxis ist so tief in sie eingedrungen, dass die bloße Lektüre solcher bürokratischer Schriften eine unmittelbare Wirkung auslöst.

Wenn die Inhaber einer Gartenkantine, die wegen regierungsfeindlichen Versammlungen geschlossen werden soll, in ihrer postalischen Antwort versichern, den Vereinsvorstand „von Personen marxistischer Überzeugung gereinigt zu haben“ oder die Ehefrau eines Inhaftierten vor Gericht zu Protokoll gibt, dass dieser sich fortan nicht nur äußerlich von der „Verhetzung und Verführung“ distanziere, durch die er sich habe „beschmutzen lassen“, dann lässt sich nicht mehr abweisen, was Victor Klemperer in seinem Werk „Lingua Tertii Imperii“ analysiert hat. Aus einem Artikel der Chemnitzer Zeitung ist so beispielsweise zu hören, dass eine vormals marxistische Sporthalle in Plauen zu einem Lager umfunktioniert wurde, um Regimegegner durch die Schutzhaft vor dem Volkszorn „zu beschützen“. Häftlinge werden „Behandlungen“ zugeführt und entflohene Personen „entleiben sich“, laut Akten der Amtshauptmannschaft, „aus Reue“.

Unterzeichnet wird der Schriftverkehr zwischen Ministerien, Gendarmerien und Verwaltungen erstaunlich häufig von promovierten Personen. Damit stellt „Zustand und Gelände“ eine wichtige Beobachtung ins Zentrum, die auch neuere Studien zu diktatorischer Gewalt bestätigen: Zur Etablierung eines Regimes braucht es die kleinen Bürokraten ebenso wie die universitären Eliten, die opportunistischen Journalisten und den gewinnorientierten Mittelstand. Der Film präsentiert Initiativbewerbungen für die Lagerorganisation oder Gesuche von Geschäftsleuten, beim Einkauf von Waren für das KZ berücksichtigt zu werden. Hier geht es nicht nur um die glühenden Ideologen auf den Hauptschauplätzen, sondern um die Lust am autoritären Charakter und um kalkulierten Karrierismus.

Brutalität als politische Botschaft

Gegen den distanzierten Verwaltungsvollzug werden immer wieder Erlebnisberichte von Zeugen und Überlebenden geschnitten, die dem entmenschlichenden Alltag der ersten Konzentrationslager Konturen verleihen. Darunter auch die Erinnerungen von Heiner Müller an die nächtliche Verhaftung seines Vaters, eines aktiven Sozialdemokraten. Die ungezügelte Gewalt der SA-Schlägertrupps, die Arbeit der bürokratischen Funktionäre und das Einvernehmen der Bevölkerung gerinnen rasch zu einem System. Dieses operiert nicht im Verborgenen, sondern im Zentrum der Städte und Ortschaften, mitten in den Gemeinden und Häusern.

Besonders eindringlich wird dies durch eine Szene auf dem Marktplatz in Reichenbach nahe Zwickau. 1934 wurde dort im sozialdemokratischen Volkshaus ein Lager eingerichtet, das die Bürger zu Hörzeugen der nächtlichen Folterungen machte – bis man den Kopf der Opfer in ein großes Kissen drückte, das als Spende von der NS-Frauenschaft genäht und übergeben wurde.

Dass niemand etwas von den späteren Vernichtungslagern gewusst haben will, ist umso unglaubwürdiger, wenn man bedenkt, wie konstitutiv diese Brutalität für das NS-Regime von Beginn an war. Zugleich wird in diesem kontinuierlichen Wegsehen die Effektivität der Repression deutlich.

Die lange Geschichte des Wegsehens

Gelegentlich schneidet Adamczewski auch Zeugnisse aus der Zeit der DDR in die filmische Recherche. Zwar wurde die Vernichtung der Juden von der Regierung anerkannt, doch als Opfer des Nationalsozialismus ließ man nur jene Arbeiter gelten, die heldenhaft im Kampf gefallen oder im Lager als politische Häftlinge ermordet worden waren. Mit der SED bahnte sich zudem eine neue Liga von Parteifunktionären und Bürokraten an. Eine lange Totale reiht drei Architekturen hintereinander: Plattenbauten durchziehen das Bild horizontal, davor Glasbauten der Nachwendezeit und im Vordergrund alte Villen.

Die anhaltende Wirkung der politischen Gewalt zeigt sich nach der Wende in Aufmärschen von Skinheads, über die in einem Zeitzeugnis kurz reflektiert wird. Ein argloser Passant wird an der Straßenbahnhaltestelle von ihnen schwer misshandelt und fast skalpiert, nur weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war.

Dass es sich dabei nicht nur um spontane Gewaltausbrüche handelt, wird spätestens bei der Enttarnung der Zwickauer Terrorzelle des NSU deutlich. Ein zitierter mdr-Beitrag über eine Demonstration von DGB und Grünen schildert eine Mahnwache gegen Rassismus, bei der die Menschen sich gleichzeitig um den Ruf der Stadt sorgen und betonen, dass der NSU unbemerkt geblieben sei und mit den Zwickauern „nichts zu tun“ habe.

„Zustand und Gelände“ öffnet hingegen den Blick für eine Geschichte, deren Spuren an den Häuserwänden offen sichtbar sind: als Schmierereien der Zwickauer Fußball-Ultras, die Nazi-Lieder im Stadion singen, als in Fenstern hängende Reichsfahnen und antagonistische Graffiti der örtlichen Antifa. Der Film hinterlässt eine nachhaltige politische Beunruhigung, in seiner Spannung zwischen streng formaler, analytischer Ästhetik und der Beiläufigkeit, mit der die Verbrechen in den Dokumenten festgehalten sind.

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