Nein, da ist der Versicherungsangestellte Max ganz penibel, solange der Tod des Versicherten nicht unzweifelhaft bewiesen ist, solange kann auch die Versicherungssumme nicht an die Witwe Alice ausgezahlt werden. Die wendet ein, dass ihr Mann Arthur jetzt schon ein halbes Jahr verschwunden sei. Da könne man nichts machen, gibt Max bedauernd zurück. Dabei hat er selbst gerade ziemlich handfeste Probleme. Sein Hirntumor ist stark gewachsen; die therapeutischen Handreichungen haben nicht gefruchtet. Für eine Operation ist es längst zu spät; mit Persönlichkeitsveränderungen ist wohl zu rechnen. Die Diagnose lautet unmissverständlich: „Wenn sie noch etwas im Leben unbedingt machen wollen, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt!“
Regisseur Jonas Alexander Arnby hält den Zuschauer von Beginn an ziemlich clever auf Distanz. Die Chronologie des Erzählens ist aufgehoben, Erinnerungen an bessere Zeiten mischen sich mit der Gegenwart des Protagonisten Max. Der Verzicht auf Kunstlicht und die gewählte Farbpalette macht die Bilder dunkel und schummrig. Durch die Kameraperspektiven und die reduzierten Informationen fällt es zunächst schwer, sich überhaupt zu orientieren, worum es „Suicide Tourist“ zu tun ist. Gleichfalls in der Genre-Schwebe arbeiten Filmmusik und Sounddesign. Zudem erscheint der Erzähler als potenziell unzuverlässig.
Ein kafkaesker Auftakt
Die Atmosphäre zu Beginn von „Suicide Tourist“ lässt sich mit „kafkaesk“ oder beklemmend ganz gut charakterisieren. Max erhält Besuch von einer älteren Frau, die ihn etwas unterschreiben lässt und ihm dann Telefon und Geldbeutel abnimmt. Er wird zu einem kleinen Flugplatz gefahren und fliegt davon. Dann ist er wieder in der Wohnung und wird von seiner Ehefrau Lærke überrascht. Nach einer guten halben Stunde – mittlerweile weiß man um Max’ Gesundheitszustand – testet der Film unvermittelt das Comedy-Potenzial der unangenehmen Atmosphäre. Kommt ein Mann in den Baumarkt und fragt nach einem für ein größeres Gewicht geeigneten Knoten. Der Mitarbeiter ist gerne behilflich, knotet das Seil und fragt nach dem Gewicht. Der Mann guckt an sich herunter und antwortet: „So ungefähr 92 Kilo!“ Betretenes Schweigen.
Weitere Selbsttötungsversuche scheitern, durchaus komisch, weil Max vergisst, sein Mobiltelefon auszuschalten und mit dem Leben doch noch nicht so weit abgeschlossen hat, dass er auf Anrufe oder Hupen nicht mehr reagieren würde. Das nennt man Pflichtbewusstsein. Am anderen Ende der Leitung ist Alice, die endlich einen Hinweis auf den Verbleib ihres Mannes entdeckt hat. Der führt zu dem abgelegenen Berghotel „Aurora“, wo offenkundig kommerzielle Sterbehilfe auf hohem Niveau betrieben wird. An dieser Stelle kommt der Filmtitel ins Spiel, und von da an wird es richtig kompliziert. Max nimmt Kontakt auf und – man ist wieder zurück am Beginn des Films – fliegt in das luxuriöse Resort, das inmitten einer großartigen Gebirgslandschaft liegt.
Ganz stilsicher handelt es sich bei der im „Aurora“ versammelten Gesellschaft um eine Art von „Zauberberg“, allerdings explizit ohne Rückfahrtschein und ohne Hoffnung. Max kann hier nach dem Verbleib des vermissten Arthur forschen, befindet sich andererseits aber selbst ja in einer Lage, die seinen „Transit“ im „Aurora“ legitimieren würde.
Der erzählerischen Facetten weiten sich
Von jetzt erweitert „Suicide Tourist“ die Facetten des Erzählens erheblich. Es gibt das kontroverse Thema der professionell begleiteten Sterbehilfe, die eine Alternative zu anderen, asozialeren und gefährlich-unsicheren Formen der Selbsttötung bietet. Genau dies wird im „Aurora“ nach allen Regeln eines Luxus-Resorts professionell verhandelt: Nach mehreren Vorbesprechungen gilt es, die Inszenierung einer möglichst individuellen Form des Ablebens zu planen. Vielleicht ein kurzes Abschiedsvideo für die Angehörigen? Welche Musik? Welche Methode? Injektion oder Pille oder Cocktail? Lieber in eine biologisch abbaubare Urne oder doch als Dünger für eine selbstgewählte Pflanze? Aufgrund des Permafrosts sind Erdbestattungen vor Ort nicht möglich.
Im „Aurora“ ist Max zugleich eine Art Ermittler und andererseits auch Patient mit quälenden Erinnerungen an die schöne Zeit mit Lærke. Das Geschehen vor Ort ist abgedämpft und für einen Beobachter, der nicht nur mit sich selbst beschäftigt ist, etwas mysteriös. Außerdem ist das „Aurora“ eben auch ein Ort mit Raum für soziale Kontakte, was etwas misslich ist, wenn durch Begegnungen plötzlich deutlich wird, dass es durchaus Gründe gäbe, noch ein wenig am Leben zu hängen. Der Einforderung einer fehlenden Reiserücktrittsversicherung begegnet man im „Aurora“ kompromisslos und unmissverständlich: „Es gibt kein Entkommen!“
Ein möglichst schmerzloser Tod
„Suicide Tourist“ jongliert ziemlich überzeugend und durchaus dem Ernst der Lage angemessen mit mehreren Genres, ist zugleich Mystery-Thriller, melancholische Krankengeschichte voller Stimmungsschwankungen und klaustrophobisch-labyrinthischer Hotel-Film. Nicht auszuschließen ist zudem, dass es sich bei der ganzen Hotel-Geschichte um die widersprüchliche Fantasie eines Sterbenden zwischen Hoffen und Bangen handelt. Falls dem so ist, dann erweist sich Max bis zuletzt als ein sehr zuverlässiger Mitarbeiter der Versicherungsfirma, für die er arbeitet(e). Denn Arthurs Verbleib wird nicht nur instinktsicher aufgeklärt, sondern erlaubt Max zudem auch eine sentimentale Entscheidung hinsichtlich seiner Bestattung.
Wenngleich der Film sich nicht tiefer als unbedingt nötig in das ethisch unwegsame Terrain des suizidalen Tourismus hineinwagt, so ist schon ausgemacht, dass das Happy End hier allein ein möglichst schmerzloser Tod ist.