Drama | USA 2020 | 121 Minuten

Regie: Joe Robert Cole

Ein junger Mann aus einem Ghetto in Oakland kommt wegen eines Doppelmords aus ungeklärtem Motiv hinter Gitter. In Rückblenden erzählt das Drama, wie der introvertierte Junge durch die Perspektivlosigkeit in seinem Umfeld unweigerlich auf die schiefe Bahn gerät. Dabei hat er vor allem die darwinistische Ideologie seines aggressiven Vaters verinnerlicht. Ein feinfühliges, ambitioniert gefilmtes Drama über vergiftete Rollenbilder und die Ausweglosigkeit junger Afroamerikaner aus prekären Verhältnissen. Auch wenn sich die langsame, mäandernde Erzählweise manchmal in Details verliert, überzeugt der Film durch seine nüchterne Klarheit, die dennoch Raum für die schöpferische Kraft des Einzelnen lässt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ALL DAY AND A NIGHT
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Color Force/Mighty Engine
Regie
Joe Robert Cole
Buch
Joe Robert Cole
Kamera
Jessica Lee Gangé
Musik
Michael Abels
Schnitt
Mako Kamitsuna
Darsteller
Ashton Sanders (Jahkor) · Jeffrey Wright (James Daniel "JD" Lincoln) · Christopher Meyer (Lamark) · Jalyn Hall (Junger Jahkor) · Andrea Ellsworth (Kim)
Länge
121 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Ein junger US-Afroamerikaner trifft im Gefängnis auf seinen Vater und sucht nach einem Ausweg aus einer Spirale aus Perspektivlosigkeit und Kriminalität.

Diskussion

Mit bebender Stimme und feuchten Augen fordert die ältere Frau im Gerichtssaal eine Antwort. Sie will wissen, warum der hagere Junge auf der Anklagebank ihre Tochter und deren Freund kaltblütig erschossen hat. Und obwohl sich die Tat offensichtlich aus einem Bandenkrieg heraus entwickelt hat, schweigt Jahkor (Ashton Sanders) über seine wahren Motive.

Wir befinden uns an der vorläufigen Endstation eines perspektivlosen Lebens. Von hier weist das Drama „All Day and a Night“ sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit. Während in der Erzählerstimme von Jahkor bereits die Weisheit des Bekehrten mitschwingt, dröselt der Film in Rückblenden behutsam auf, wie aus einem introvertierten Kind ein Gangster und Mörder werden konnte. Im Laufe der Geschichte erfährt man somit nicht nur, was den Jungen zur Tat getrieben hat, sondern auch, wie es ihm schließlich gelingt, aus dem ewigen Kreislauf der Gewalt zu fliehen.

Ein Psychogramm schwarzer Männer aus prekären Milieus

Regisseur und Drehbuchautor Joe Robert Cole hat es sich allerdings nicht zum Ziel gemacht, diese Frage möglichst schnell und geradlinig zu beantworten. Mäandernd widmet er sich dem schicksalhaften Werdegang seines Protagonisten und entwirft dabei ein Psychogramm schwarzer US-Amerikaner aus prekären Milieus. Jahkor erleidet letztlich nichts anderes als die meisten seiner Altersgenossen im kalifornischen West Oakland: In einem Leben ohne Perspektiven unterliegt die mütterliche Vernunft dem aggressiven väterlichen Darwinismus. Zwar verabscheut Jahkor seinen gewalttätigen, kriminellen Vater JD (Jeffrey Wright), doch dessen Denken – nach dem jeder Mann ein Raubtier ist – hat er verinnerlicht. Als Jahkors Freundin ein Kind erwartet und sich für ihn eine Möglichkeit ergibt, als Rapper durchzustarten, bäumt er sich ein letztes Mal gegen seine vermeintliche Bestimmung auf.

Bereits in „Moonlight“ verkörperte Hauptdarsteller Ashton Sanders einen Jungen, der sich zwar gegen das raue Männerbild seiner Umgebung sträubt, es zum eigenen Schutz aber letztlich selbst annimmt. Auch wenn hier in seinem durchdringenden Blick immer wieder Wut oder Leidenschaft aufflackert, wirkt er die meiste Zeit apathisch und resigniert. Man könnte auch sagen, dass er sich mit dem Unvermeidbaren abgefunden hat. Einem Schulfreund, der dem Ghetto den Rücken kehren möchte, entgegnet er: „Das schaffst du nie.“ Wenn später ausgerechnet dieser ehrgeizige Freund im Rollstuhl landet, hat sich die Ohnmacht gegenüber dem eigenen Schicksal ein weiteres Mal bestätigt.

Im Zentrum: die Dynamik der „Black Community“

Nur ein paar Mal tauchen am Rande auch Weiße auf, etwa ein jovialer Polizist oder eine Passantin, die Jahkor wegen seiner Hautfarbe irrtümlich für einen Einbrecher hält. „All Day and a Night“ nimmt jedoch weniger den alltäglichen Rassismus ins Visier, sondern konzentriert sich stärker auf die zerstörerische Dynamik innerhalb der schwarzen Gemeinschaft. Einmal meint Jahkor, dass er sich auch früher schon wie im Gefängnis gefühlt hat, nur konnte man damals die Mauern nicht sehen.

Auch wenn sich die Geschichte immer wieder ein wenig im Kreis dreht und dadurch an Intensität verliert, passt diese Erzählweise ganz gut zu einem Leben, das von Rückschlägen und endlosen Wiederholungen geprägt ist. Kaum ist Jahkor seinem Vater entkommen, läuft er ihm im Gefängnis auch schon wieder in die Arme.

Eine virtuose Kameraarbeit

In einem Umfeld, in dem jeder Ausbruch zum Scheitern verurteilt ist, wirkt es zunächst seltsam, dass die Kamera  von Jessica Lee Gagné so virtuos ist. Immer wieder erforscht sie in eleganten, fließenden Bewegungen Straßen oder Hinterhöfe und vermittelt dabei ein monumentales Raumgefühl. Es scheint so, als wolle der Film damit sagen, welche persönlichen Freiheiten man selbst noch unter den schlechtesten Voraussetzungen hat. Jahkor kann zwar nichts mehr vom Leben erwarten, aber er trägt dennoch das Potenzial für eine bessere Zukunft in sich. Wenn er am Schluss im Gefängnishof ein Bäumchen pflanzt, mag das ein wenig kitschig sein, aber es ist auch ein schönes Bild für die schöpferische Kraft des Einzelnen.

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