„Du könntest meine Tochter sein“, sagt die blasierte Hotelbesitzerin Maud (Isabelle Huppert), als sie sich gemeinsam mit ihrer Stieftochter Claire (Lou de Laâge) im Spiegel betrachtet. Doch was wie ein liebevolles Geständnis klingt, ist eigentlich eine Kriegserklärung. Denn es geht Maud nicht um die Ähnlichkeit, die beide verbindet, sondern um die drohende Konkurrenz. Tatsächlich meint sei: Du siehst nicht nur so gut aus wie ich, sondern sogar noch besser.
Schönheit ist in der modernen Schneewittchen-Adaption „Weiß wie Schnee“ von Anne Fontaine gleichbedeutend mit Macht. Wer hübsch ist, hat eine überwältigende Wirkung auf andere, kann sie verzaubern und manipulieren. Was das Schönsein dabei so kostbar macht, ist seine Vergänglichkeit, weshalb Maud sich auch so verzweifelt an dieses Privileg klammert. Als zeitgenössische Version der missgünstigen Königin versucht sie ihre Stieftochter schließlich mithilfe einer Auftragskillerin aus dem Weg zu räumen. Nachdem das aber nicht klappt, wacht Claire in einem abgelegenen Waldhaus auf, in dem zwar nicht die sieben Zwerge wohnen, dafür aber zwei nicht minder kauzige Zwillingsbrüder (Damien Bonnard in einer Doppelrolle) mit einem hochneurotischen Cellisten (Vincent Macagine) und seinem melancholischen Bobtail-Hund.
Im Dorf hinter den Bergen
Den Wald und das nahegelegene Dorf inszeniert Fontaine als mythische Parallelwelt, die man erst erreicht, nachdem man eine geheimnisvoll nebelverhangene Alpenlandschaft durchquert hat. Dieser Ort, an dem bis auf eine lesbische Barbesitzerin scheinbar nur Männer leben und wo einen neugierige Eichhörnchen beim Liebesspiel beobachten, ist zugleich verwunschen und doch sehr real. Genau genommen befindet er sich in der Nähe des Wallfahrtsortes La Salette-Fallavaux, wo zwei Kindern im Jahr 1846 die weinende Madonna erschienen ist. Wie ein Wunder wirkt Claire auch für die Bewohner des Dorfes. Der etwas schmierige, aber nicht uncharmante Buchhändler Charles (Benoît Poelvoorde) betont zwar, dass er Atheist sei, kommt aber trotzdem nicht umhin, die Fremde mit der heiligen Jungfrau von Salette zu vergleichen.
Claires Ausstrahlung entzieht sich rationalen Erklärungen und bringt die Dorfbewohner dazu, sich wie hilflose Trottel zu benehmen. Die sieben (!) überwiegend älteren Verehrer beginnen in ihrer Gegenwart zu stottern, bekommen Schweißausbrüche oder fallen vor Lust auf die Knie. Selbst der junge, athletische Clément (Pablo Pauly), der eigentlich ein perfekter Prinz wäre, verhält sich wie ein von seinen eigenen Gefühlen überfordertes Kind. Einzig der Pfarrer (Richard Fréchette) bleibt gegenüber dem Mädchen souverän. Aber er ist den Umgang mit Erscheinungen schließlich auch gewohnt.
Zwiespältiges Verhältnis zur Grimmschen Vorlage
Zur Grimmschen Vorlage hat „Weiß wie Schnee“ ein zwiespältiges Verhältnis. Der Film ist zwar eine Reflexion auf das Märchen, funktioniert aber am besten, wenn er sich möglichst weit von ihm entfernt. Während die Einteilung in Kapitel oder Mauds Entscheidung, Claire mit einem Apfel zu vergiften, wie reine Zitate in der ansonsten recht modernen Welt wirken, gibt es etwas bemüht augenzwinkernde Hinweise wie im Bildvordergrund platzierte Gartenzwerge oder ein sarkastisch gemeintes „Prinzessin“.
Doch auch wenn der Film als erotische Komödie mit eigener Dynamik am überzeugendsten ist, muss die Vorlage sichtbar bleiben: Zum einen, weil Fontaines eher archetypisch überhöhte als psychologisch ausdifferenzierte Figuren konsequent märchenhaft bleiben, zum anderen, weil der Film die Sehnsucht nach einem klassischen Happy End spielerisch hinterfragt. Die Skepsis richtet sich dabei vor allem gegen die Vorstellung, dass man überhaupt den Richtigen finden kann.
Nur für den Moment leben
Der entscheidende Kontrast zwischen der unbekümmert lebenslustigen Claire und der mit ihren engen Designerklamotten und dem starken Make-Up immer ein wenig steif und künstlich wirkenden Maud hat dann auch weniger mit Jugend und Schönheit als mit dem Wunsch zu tun, jemanden zu besitzen. Anders als Maud, die sich an der Stieftochter rächen will, weil sie dem einzigen Mann, den die kühle Hotelbesitzerin je geliebt hat, den Kopf verdrehte, lebt Claire nur für den Moment. Von jedem Mann, dem sie begegnet, fühlt sie sich auf eine andere Weise angezogen und verspürt dabei doch nie den Wunsch, sich dauerhaft zu binden.
Interessant an dieser Utopie ist, dass es zwischen den Geschlechtern sehr unterschiedliche Privilegien gibt. Die Männer sind für Claire zwar gerade wegen ihrer offensichtlichen Schwächen anziehend, aber sie kann sich eben auch gewiss sein, dass ihre Verehrer keiner anderen hinterherschauen. Die freie Liebe bleibt dagegen ihr vorenthalten: Claires Schönheit gibt ihr die Macht, sich jederzeit aussuchen zu können, auf wen sie gerade Lust hat.