Das Leben als Summe scheiternder Pläne und sinnentleerter Scharmützel, eine chaotische Flucht durch die Nacht, immer in Richtung Sonnenaufgang. Das ist „First Love“, ein weiterer Film von Takashi Miike, eine der neusten von nunmehr schon über hundert Regiearbeiten des Japaners seit den frühen 1990er-Jahren. Man erwartet wohl keine großen Überraschungen und Umbrüche mehr von dieser Monumental-Karriere, doch immerhin: Diese Komödie der Irrungen ist eben nicht „nur“ ein weiterer Miike-Film, sondern hebt sich mühelos aus den blutigen Fluten seines Werks hervor. Ausnahmesituationen, vorgetragen mit fester, nicht verknöcherter Routine, von einem in Unreife Gereiften.
Der Boxer, die Hure & jede Menge Gangster
Es ist ein mit leichter Hand dahinjonglierter Actionthriller, übervölkert von überzeichneten Comicmenschen, die trotzdem nicht ganz blutleere Cartoons bleiben. Er lässt es so einfach aussehen. Im Kern: Leo Katsuragi (Masataka Kubota), ein einsamer Boxer mit vollen Lippen und leerem Blick, der sich leidenschaftslos durchs Leben schlägt. Bei einem Kampf geht er überraschend zu Boden, sein Arzt berichtet mit ernster Miene von dem Tumor, der auf seinen Hirnstamm drückt. Was tun mit der verbleibenden Zeit, fragt er sich, als ihm zufällig eine Frau in die Arme stürzt: Yuri (Sakurako Konishi), eine drogensüchtige Zwangsprostituierte. Vermeintlich auf der Flucht vor einem korrupten Polizisten, tatsächlich auf der Flucht vor drogeninduzierten Visionen ihres grausamen Vaters. Leo entschließt sich, mit seinem dahinschwindenden Leben das ihre zu schützen, gegen alle, die sie jagen, ob Mensch oder Geist. Vom Soundtrack kreischt das jazzige Film-noir-Saxofon.
Mit dieser Eisbergspitze der Handlung sind gewiss nicht alle wild umherwirbelnden Elemente erfasst. Irgendwo im Hintergrund bekriegen sich japanische und chinesische Gangster, vielleicht bricht bald ein großer Clankrieg aus. Für jeden Toten schwört ein Lebender Rache, alte Rechnungen wollen beglichen werden. Mit dem Figurenensemble ließe sich eine ganze Serienstaffel füllen: Ein einarmiger Yakuza; eine zornige Triaden-Killerin, enttäuscht vom Stellenwert der konfuzianistischen Morallehre für ihre Gangster-Kollegen; eine junge Frau, die nach dem Tod ihres Freunds zur unaufhaltsamen Terminatorin wird; alternde Gangster, in ewiger Hassliebe mit ihren Feinden verbunden. Womöglich Abziehbilder und Genre-Stereotypen, doch von ihren Darstellern mit ausreichend Verve gespielt, um eben nicht reine Staffage zu werden. Weil sie einfach sind, bleiben sie klar. Man kennt sie kaum, doch weiß viel über sie. Überall nachvollziehbare Motivationen und ihre zwangsläufige Frustration.
Komplexe Pläne, die mit viel Elan gegen die Wand gefahren werden
Sie alle schmieden komplexe Pläne, die mit viel Elan gegen die Wand gefahren werden. Wie etwa im Kino der Coen-Brüder können hier kaum mehr klare Geschichten erzählt werden, sondern nur noch Pannen und Missgeschicke. Humor zieht der Film aus der Unordnung der Dinge, aus dem ewigen Verwirrspiel, aus der letztendlichen Machtlosigkeit der Starken und dem wundersamen Überleben der Gehetzten. Immer wieder wenden sich Szenen mit abrupter Plötzlichkeit, der Deus Ex Machina schwebt nicht mühsam herab, sondern betritt und verlässt die Szene mit dem Bungee-Seil.
Wirklich schön sind die Bilder des Films nie. Eher schummrig dunkel, ein wenig arm an Licht. Die Nacht ist schwarz, matte Birnen und Neonröhren fallen auf ein Spektrum von grau bis braun. Die farblose Tristesse einer Gefängniszelle, ausgedehnt auf die gesamte erfahrbare Welt. Das allumfassende Zwielicht präsentiert sich als Sinnbild der Gefangenschaft, aus der Leo und Yuri verzweifelt zu entkommen suchen. Sie ist Gefangene ihrer Sucht, ihrer Vergangenheit und ganz konkret physische Gefangene, weil die Yakuza sie lange in eine enge, schäbige Wohnung eingesperrt hat. Er wird ebenfalls von Erinnerungen heimgesucht, vor allem aber nimmt ihn die Lethargie eines zweckbefreiten Lebens in Beschlag. Die visuelle Gleichförmigkeit gibt den vielen Bewegungen – denen der Kamera, der Figuren, des Plots – einen Hauch von Verzweiflung. Wieso der Aufruhr, wenn es doch überall gleichermaßen trostlos ist?
Liebe als Aktion und Bewegung
Und warum dieser Titel, „First Love“, wenn mehr gewürgt als umarmt, mehr geschossen als geküsst wird? Wie bleibt in all dem blutigen Durcheinander Zeit für Liebe? Sie ist bei Miike kein Zustand, sondern Aktion und Bewegung. Sie ist das Entrinnen, das Weitermachen, das gemeinsame Überleben. Nicht allein, was man fühlt, sondern was man tut. Ein Raum, den man sich erkämpft, der zunächst sogar ganz aus dem Erkämpfen besteht. Folglich: Das Einswerden zweier Kämpfe, wie eine Montage zeigt, in der Leo im Boxring mit Yuris mühsamem Entzug parallelmontiert wird. In einer besonders schönen Szene teilt Leo seine Kopfhörer mit Yuri, nimmt sie mit in seine musikalische Intimsphäre, und plötzlich lassen die Rhythmen den düsteren Geist ihrer Albträume tanzen. Ungelenk und albern wackelt er durch ein Straßenbahnabteil, machtlos. Leo kann ihre Schmerzen nie ganz begreifen – so wenig wie sie seine –, dafür aber lindern.
Miike wird als Regisseur des Exzesses gehandelt; das ist nicht falsch, nur verkürzt, liegen ihm doch auch die sanften Tastenanschläge. „First Love“ hat eine Szene an einem Bahnübergang, in der Vergangenheit und Gegenwart aufeinandertreffen, ein mögliches und ein tatsächliches Leben, die genauso in einem Film von Hirokazu Kore-eda vorkommen könnte. „First Love“ ist tatsächlich kein Film über eine erste Liebe, sondern über das, was von ihr in jeder weiteren Beziehung erhalten bleibt. Liebe als schmerzliche Nostalgie, ein womöglich ewig unerfülltes Versprechen. Leo ist auch ein Echo des jungen Mannes, den Yuri einst wegen seiner schützenden Gewalt gegen ihren Vater liebte. Ein Wiedergänger.
Das Klischee, das japanische Kino strebe Ozu-artig immer zur Familie oder von ihr weg, bestätigt sich zumindest bei Miike immer wieder, von „Visitor Q“ über „Audition“ bis hin zu „The Happiness of the Katakuris“. Mit dem wundervoll wandelbaren „Katakuris“ verbindet „First Love“ zuletzt auch die brüchige Form – das innere Verlangen, ein anderer Film zu werden. Bilder, die Liebe ausdrücken, weil in ihnen eine Sehnsucht nach Verwandlung liegt.