Drama | Frankreich 2019 | 312 (sechs Folgen) Minuten

Regie: Ziad Doueiri

Ein zum Hilfsarbeiter abgestiegener Mittfünfziger reagiert seinen Frust zunehmend mit Aggressionen ab, erhält aber noch einmal die Chance auf die Bewerbung für eine Personalstelle bei einem internationalen Unternehmen. Dort jedoch gerät er in ein knallhartes Planspiel, das aus dem Ruder läuft, als er die Fäden des Handelns auf blutige Weise in die eigenen Hände nimmt. Mit zahlreichen unerwarteten Wendungen aufwartende sechsteilige Fernsehserie, die ein vom Hauptdarsteller intensiv gespieltes Porträt eines vom Arbeitsmarkt „abgehängten“, gedemütigten und vor Wut darüber schwelenden Mannes zeichnet; als Analyse der Inhumanität eines kapitalistischen Arbeitsmarkts allerdings zu polemisch-überspitzt, um ganz zu überzeugen. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DÉRAPAGES
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Mandarin Télévision/Arte France
Regie
Ziad Doueiri
Buch
Pierre Lemaitre · Perrine Margaine
Kamera
Tomasso Fiorilli
Musik
Eric Neveux
Schnitt
Camille Toubkis
Darsteller
Eric Cantona (Alain Delambre) · Suzanne Clément (Nicole Delambre) · Alex Lutz (Alexandre Dormann) · Gustave Kervern (Charles Bresson) · Alice de Lencquesaing (Lucie Delambre)
Länge
312 (sechs Folgen) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung | Serie
Externe Links
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Eine sechsteilige französische Fernsehserie, inszeniert von Ziad Doueiri, um einen Mittfünziger, der nach langen jahren als Hilfsarbeiter endlich wieder auf einen guten Job hofft, aber in ein gnadenloses Selektions-Spiel eines Konzerns gerät.

Diskussion

Was ist Gewalt, wie wirkt sie sich aus? Welche Gestalten kann sie annehmen (individuell, strukturell), und wen verformt sie letztlich stärker: die Erleidenden oder die Ausübenden? Und ist unsere Gesellschaft, speziell: unser Wirtschaftssystem notwendigerweise gewalttätig, somit im Grunde kriminell? Sehr bald führt das als Miniserie erzählte Sozialdrama „Aus der Spur“ von Ziad Doueiri („Baron Noir“), frei nach dem Roman „Cadres noirs“ von Pierre Lemaitre, zu diesen Grundsatzfragen modernen Zusammenlebens und findet (zu) schnell Antworten, obwohl es im Kern eine vor allem von Éric Cantona (als Alain Delambre) überzeugend gespielte Charakterstudie eines alternden Mannes in Wut ist.

„Gefühle wie ein Terrorist“

Alain, wohl in der zweiten Hälfte seiner Fünfziger, war ehedem erfolgreicher und durchsetzungsstarker Personaler in leitender Funktion, bis er vor sechs Jahren aus dem ersten Arbeitsmarkt aussortiert wurde und mittlerweile, stets leicht fahrig und nervös, als erniedrigend empfundene Hilfsarbeiterjobs versieht. Wenigstens den Tag will er herumbringen und ein kleines bisschen zum Familienbudget beitragen, denn er lebt zusammen mit seiner deutlich jünger wirkenden, attraktiven und verständnisvollen Frau Nicole (Suzanne Clément) in einer zu großen Wohnung mit Blick über den Pariser Großstadtdschungel. Seine beiden Töchter sind beruflich durchaus standesgemäß arriviert, die eine erwartet sogar ein Baby mit einem rechten Weichei von Bankangestellten. Alle Welt blickt relativ optimistisch nach vorne, in die Zukunft, nur Alain fährt zwischen Leben und Arbeit immer ziel- und rücksichtsloser auf seinem Motorrad durch die Stadt, „Gefühle wie ein Terrorist“ stauen sich auf…

Die zunächst ungerichtete Wut entlädt sich eruptiv in Form von brutalen Kopfstößen, seinem sadistischen Chef gegenüber und dem allzu herablassenden Schwiegersohn (Nicolas Martinez). Dies mutet bei Cantona, dem ehemaligen Fußball-Raubein, sehr authentisch an; man erinnert sich unwillkürlich an Zinédine Zidanes legendäre Kopfnuss für Marco Materazzi im WM-Finale 2006 in Berlin – eine fragwürdige französische Tradition? Mit dem Rücken zur Wand – Strafzahlungen in Höhe von 100.000 Euro stehen ins Haus, und der Kredit bei der Bank ist verständlicherweise ausgeschöpft – ist Alain zu allem bereit. Sogar auf seine Frau zu hören und sich wieder einmal auf eine Annonce zu bewerben, die in vagen Worten eine gute Anstellung in seiner alten Branche verspricht.

Survival of the Fittest: ein knallhartes Selektions-Rollenspiel

Hier betreten wir mit Alain nun eine völlig andersartige Welt, hoch erhaben über die Sorgen und Nöte der Normalsterblichen, die sich einzig und allein um Big Data (und Big Money) dreht. Dort wird der schlichte Held – so der Plan des fiktiven Rüstungsgroßkonzerns Exxya und seines skrupellosen CEO Alexandre Dorfmann (Alex Lutz) – zur Figur in einem ausgeklügelten Rollenspiel der Firma zur radikalen Evaluation, ja Selektion der Fähigen, Harten, Immoralischen. Alain gerät alsbald in einen Strudel von Intrigen, Verrat und falschen Versprechungen, der seine liebende Ehefrau als moralisches Gewissen auf den Plan ruft.

Aber ein Mann muss eben tun, was ein Mann tun muss, und so verstrickt sich Delambre immer tiefer in die haarsträubende Dramaturgie der Ereignisse, welche er, fremdbestimmt, nie vollständig durchschaut, bis er in einer beklemmend-spannenden Szene zur Mitte der sechsteiligen Serie die unsichtbaren Marionettenfäden, die er über sich spürt, durchschneidet und die Dinge auf blutige Weise selbst in die Hand nimmt. Wohin ihn das führt, kann man erahnen, wenn man den ins Virile, Fokussierte veränderten Alain genauer betrachtet, der jeweils zu Beginn der Folgen Selbstkommentare direkt in die Kamera spricht.

Ein starkes Charakter-Porträt, aber ein etwas zu theoretisches Planspiel

„Aus der Spur“, trefflich benannt, zeigt einerseits die soziale Entgleisung eines Typs, der als Mittelständler viele Jahre zu den „Lokomotiven“ der französischen (europäischen) Wirtschaft gehörte und nun selbst „unter die Räder“ zu kommen droht, die Verwandlung eines allzu lange nicht artgerecht gehaltenen Bären von einem Mann in einen rasenden Bullen, der auf Rache sinnt. Andererseits will die Serie große gesellschaftliche Streitthemen mit den ihr zu Gebote stehenden filmästhetischen Mitteln einer Lösung zuführen. Das gelingt etwas weniger überzeugend als das Porträt des alternden weißen Mannes. So essenziell und gewichtig jene Fragen – was ist menschliche Arbeit? In welche Hände gehört das Kapital? Wie solidarisch kann die moderne Gesellschaft sein? – auch sein mögen: Hier verhebt sich das Buch ein wenig und läuft Gefahr, selbst den Charakter eines etwas zu theoretischen Planspiels anzunehmen, das als Strukturelement von Alain Delambres Assessment-Center fungierte.

Der Raubtierkapitalismus als Geiselnahme einer ganzen Gesellschaft, als Parabel durchgeführt auf noch so vielen Ebenen: Diese Extremposition opfert in ihrer Lust am Spektakulär-Plakativen zu viele Zwischentöne des gesellschaftlichen Gesamtbilds, um letztlich glaubhaft zu sein. Die Darstellerleistungen halten jedoch hohes Niveau bis hin zu den Nebenrollen. Nicht immer muss dabei geredet werden: Positiv fällt eine kleine Phänomenologie des Lachens auf, die alle Aspekte von zynischer Bösartigkeit bis hin zu echter freudiger Erleichterung darbietet – alles eine Frage der Perspektive also...

 

„Aus der Spur“ läuft 23. April 2020 auf arte und ist seit dem 16. April bereits in der arte Mediathek zu sehen.

 

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