Klavierstunden
Dokumentarfilm | Irland 2017 | 85 Minuten
Regie: Ken Wardrop
Filmdaten
- Originaltitel
- MAKING THE GRADE
- Produktionsland
- Irland
- Produktionsjahr
- 2017
- Produktionsfirma
- Venom Films
- Regie
- Ken Wardrop
- Buch
- Ken Wardrop
- Kamera
- Ken Wardrop
- Schnitt
- John O'Connor
- Länge
- 85 Minuten
- Kinostart
- 16.01.2020
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 10.
- Genre
- Dokumentarfilm | Musikdokumentation
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Warum lernen Menschen Klavierspielen? Der irische Dokumentarfilm beleuchtet höchst unterhaltsam und facettenreich den Kosmos von Lehrern, Schülern und der Liebe zum Tasteninstrument
Dem französischen Kultursoziologen Pierre Bourdieu galt einst in „Die feinen Unterschiede“ das Klavierspiel als Distinktionsmerkmal eines klassenspezifischen Habitus, vergleichbar etwa dem Besitz des Werkes eines berühmten Malers. Die Entscheidung für das Erlernen des Klavierspiels ist in der Tat eine spekulative Investition in die Zukunft. Das Instrument ist so kostspielig in der Anschaffung, dass die Möglichkeit eröffnet wird, es zunächst über einen längeren Zeitraum gegen eine Gebühr zu leihen, um zu prüfen, ob der Reiz, der vom Instrument ausgeht, trägt. Falls ja, wird die Leihgebühr später auf den Kaufpreis angerechnet. Der nun folgende Weg hin zum souveränen Spiel ist lang und auch häufig frustrierend, erfordert Disziplin und Ehrgeiz, zumal die ersten Spiel-Resultate zumeist von erschütternder Banalität und Simplizität sind.
Wer jemals Zeuge der öffentlichen Präsentation von Klavierstunden wurde, wird sich nicht ohne einen Anflug von Sentimentalität daran erinnern: Hier der kurz und knapp moderierende Klavierlehrer, da der mit größter Anstrengung und Konzentration halbwegs zwischen Melodie und Rhythmus vermittelnde Eleve und schließlich die stolzen, hingerissenen Eltern, umgeben von anderen, weit weniger begeisterten Eltern. Hochnotpeinlich, aber toll!
Irische Klavierstunden auf dem Weg zur Prüfung
Inwieweit aber Bourdieus Annahmen heute noch valid sind, diese Frage stellt sich nach Sichtung von Ken Wardrops höchst unterhaltsamer Dokumentation. Schließlich bereiten sich in Irland jedes Jahr 30 000 Klavierschüler jeden Alters auf eine Prüfung unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades an der Musikschule vor. Wardrop hat gleich Dutzende dieser Klavierschüler vor die Kamera geholt, zeigt sie beim mal mehr, mal weniger disziplinierten Üben, befragt sie nach ihrem Verhältnis zum Klavier und zur Musik, zeigt die Eltern, die zuhören oder im Auto vor der Musikschule warten.
Dann widmet sich der Film in kurzen, aber pointierten Szenen dem Unterricht selbst, der Interaktion zwischen den Musiklehrern und ihren Schülern. Der Umgang ist freundlich, empathisch, enthusiastisch, bisweilen nachsichtig oder auch sarkastisch: „Die Note zu treffen wäre schon hilfreich!“ Nicht immer erwidert die Musik die ihr entgegengebrachte Liebe, weil es den Liebenden an Talent mangelt. Die jüngsten Musikschüler treten hier mit dem Charme der „Montagsmaler“ vor die Kamera, berichten mit großem Ernst und sehr von der Wichtigkeit überzeugt von ihren Abenteuern an den 88 Tasten und von ihren Lehrern.
Vielfältige Motivationen zwischen Whitney Houston und Muskelkrankheit
Die Spannbreite der unterschiedlichen Motivationen für den Besuch der Klavierstunden ist höchst divergent: Mal geht es um Whitney Houston, mal möchte ein Heavy Metal-Musiker seine Palette erweitern, auch wenn nur Jazz dabei herauskommt, mal nutzt ein Mädchen mit einer Muskelkrankheit das Instrument zum Training ihrer Fingermuskulatur und rappt dazu. Manche sind erstaunlich virtuos, manche lassen es an Trainingsfleiß mangeln, manche verwickeln ihre Lehrer strategisch geschickt in persönliche Gespräche, um den Musikanteil der Stunde in Grenzen zu halten.
Mindestens so unterschiedlich wie die Musikschüler sind die Musiklehrer, deren Ethos es gebietet, möglichst immer gute Miene zum mitunter bösen Spiel zu machen. Mal entsprechen sie eher dem Klischee der schon älteren Lehrerin, mal ist es ein junger Musiker, der sich seine eigene Kunst durch Unterricht finanziert. Mal wird streng exerziert, mal geht es eher ums Improvisieren. Es geht Wardrop nicht um die Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten pädagogischen Konzepten zwischen Autorität und Autodidaktik, sondern vielmehr darum, die Freude an und die Kraft der Musik zu feiern, insbesondere in Episoden, die auch mal einen etwas ernsteren Ton anschlagen, wie im Falle der mittelalten Frau, die sich in einer Lebenskrise das Klavier für sich wieder entdeckt und Kraft beim Musizieren schöpft.
Und an Bourdieu kann man dann wieder denken, wenn man die Interieurs betrachtet, in denen der Film spielt. Hier die Einrichtung der mitunter privaten, mitunter öffentlichen Räume, in denen der Unterricht stattfindet. Da die Lebensräumen der Schüler, in denen das Instrument steht – allzu oft ein Provisorium, eine Nische, als trauten die Eltern dem Durchhaltevermögen ihrer Kinder noch nicht so recht über den Weg. Passend zur Haltung von „Klavierstunden“ gilt alle Konzentration der Vorbereitung auf die Prüfungen, die dann als Prüfungssituation aber überhaupt keine Rolle im Film spielen. So sollte es im besten Fall auch sein: die Prüfung als „Arschtritt“, wie es im Film einmal sehr schön heißt, auf dem Weg zu Höherem.