„Three Chords and the Truth“ steht in geschwungenen Lettern auf Rose-Lynns Arm tätowiert: Drei Akkorde und die Wahrheit. Ein Zitat des legendären Country-Musikers Harlan Howard aus den 1950er-Jahren; gerade erst hat der nordirische Singer-Songwriter Van Morrison sein neues Album so benannt.
Rose-Lynn Harlan heißt die Hauptfigur in „Wild Rose“ von Tom Harper, ihr Familienname ist sicher auch eine Hommage der Drehbuchautorin Nicole Taylor an den Sänger und Komponisten, der viele der Country-Evergreens geschrieben hat. Rose-Lynn war gerade ein Jahr im Gefängnis; nun trägt sie eine elektronische Fußfessel, über die ihre weißen Cowboystiefel nicht so recht passen wollen. Als käme sie von einem anderen Stern, stiefelt sie, frisch entlassen, durch ihre Stadt Glasgow. Lieber, viel lieber wäre sie in Nashville, der Metropole der Country-Musik: Die große Leidenschaft der begnadeten Sängerin.
Keine klassische „Rise and Fall“-Erzählung
„Wild Rose“ könnte nun eine klassische „Rise and Fall“-Erzählung werden, vom wundersamen Aufstieg eines skurrilerweise schottischen Country-Stars – im Stil des Queen-Biopics „Bohemian Rhapsody“ etwa. Zuerst hat Rose-Lynn Sex, auf der Wiese vor den Wohnsilos am Rande der Stadt, ihre bloßen Knie sind ganz grün danach. Dann geht sie zu ihren Kindern, die sie sehr jung bekommen hat: ein fünfjähriger Junge und ein achtjähriges Mädchen. Ihre Mutter war in der Zwischenzeit für die beiden da; im Gefängnis besucht haben sie Rose-Lynn nie. Die Mutter ist ihnen fremd geworden und umgekehrt gilt das auch: Es wirkt fast so, als sei Rose-Lynn nicht ein Jahr weg gewesen – sondern noch nie richtig da.
Männer sind unterrepräsentiert. Den umgedrehten Bechdel-Test, der sich dann auf Männerrollen beziehen würde, bestünde „Wild Rose“ nicht: Die Männer haben keine Namen und sprechen nicht miteinander, sie spielen kleine Nebenrollen. Das hat eine bittere Ursache: Als Väter sind sie in dieser Geschichte, in dieser Familie nicht präsent. Rose-Lynn ist als Teenager Mutter geworden, ebenso ihre Mutter. Dies ist eine Welt von alleinerziehenden Müttern, ein Netzwerk von Nachbarinnen und Freundinnen (der Mutter in der Regel), auf das Rose-Lynn auch zurückgreift, wenn sie die Kinder wieder woanders unterbringen muss, um ihren Traum von der Country-Karriere zu verfolgen.
Mutter und Tochter und die Karriere
Zentral steht die Frage: Wie bringe ich Muttersein und Karriere unter einen Hut? Wenn ich Verantwortung für meine Kinder übernehme, bedeutet das dann, dass ich meine Träume und Hoffnungen aufgeben muss? Hier reibt sich Rose-Lynn mit der eigenen Mutter: „Wild Rose“ ist auch ein Mutter-Tochter Film, ein Subgenre, das im Gegensatz zu Vater-Sohn-Geschichten auf der Leinwand gar nicht so häufig vorkommt.
Rose-Lynn nimmt einen Putzjob an und trifft in ihrer Upper-Class-Arbeitgeberin und deren Kindern überraschend auf Fans, die sie gerne unterstützen würden: Aber „Wild Rose“ ist nicht das Märchen vom hässlichen Entlein, dazu ist der Film viel zu realistisch im suburban-einfachen Milieu verankert. Außerdem geht es hier schließlich darum, es aus eigener Kraft zu schaffen.
Energie und Leidenschaft
Jessie Buckley spielt die zerrissene, impulsive Rose-Lynn mit einer Energie und Leidenschaft, die sich direkt und ungefiltert auf den Zuschauer überträgt; die Kamera ist auf sie fokussiert. Die irische Schauspielerin ist in ihrer zweiten Kinohauptrolle nach „Beast“ eine absolute Entdeckung. Sie singt zudem großartig und herzerweichend, einige der Songs des tollen Soundtracks (wobei man Country und Folk schon mögen sollte) hat sie gemeinsam mit der Drehbuchautorin und zwei Musikern selbst geschrieben.
„Wild Rose“ ist keine klassische Erzählung von Aufstieg und Fall, von Erfolg und Misserfolg und wie nahe beides beieinander liegt. Es geht hier darum, gerade als Frau und Mutter, den eigenen Weg zu finden, die eigenen Fehler machen zu dürfen. Oder, wie Rose-Lynn es in einem Song so weitsichtig wie tautologisch formuliert: „When I reach the place I’m going / I’ll surely know my way.” Wenn ich mein Ziel erreicht habe / Weiß ich sicher auch meinen Weg.