Grell strahlen unzählige Glühbirnen von der niedrigen Decke. Wer in diesem Büro Fragen beantworten muss, sitzt quasi wie in einem Brutkasten. Die Nervosität der Vorgeladenen kann dementsprechend immense Formen annehmen, selbst wenn sie wie Louis Fugain auf ihre Unschuld pochen. Dabei weiß der schnurrbärtige Mann im Hawaiihemd noch nicht mal, warum sein Gegenüber ihn überhaupt so erschöpfend aushorcht: Hat er nicht lediglich nachts einen Unbekannten tot vor seinem Haus gefunden und ordnungsgemäß die Polizei gerufen?
Doch Hauptkommissar Buron scheint nicht gewillt, den Zeugen gehen zu lassen, so lange es keine Erklärung für die irritierende Aussage einer Nachbarin gibt. Ihr zufolge verließ Fugain in jener Nacht nicht weniger als sieben Mal seine Wohnung und kehrte dahin zurück. Eine peinlich genaue Befragung scheint Buron von Nöten, und sollte die bis zum Morgen dauern.
Kammerspielartiges Duell der Dialoge
Im Vergleich zu den ersten sechs Regie-Arbeiten des französischen Filmemachers und Elektro-Musikers Quentin Dupieux alias Mr. Oizo wirkt das Terrain seines siebten Films „Die Wache“ auf den ersten Blick fast konventionell. Das Szenario erinnert an Claude Millers „Das Verhör“: Die Ereignisse in einem Polizeibüro während eines langen Abends, in dessen Verlauf sich Gewissheiten zwischen Ermittler und Befragtem verschieben; ein kammerspielartiges Duell der Dialoge und gegensätzlichen Persönlichkeiten.
Doch schon das Set-Design des Films lässt keinen Gedanken an eine „realistische“ Polizeistation aufkommen. Das in Braun- und Grautönen schwelgende Mobiliar und die Ausstattung der Polizisten sind offenkundig aus den 1980er-Jahren oder älter, mit klobigen Computer-Bildschirmen, alten Schreibmaschinen und Telefonen. Auch die Kleidung der Figuren lässt sie wie Wiedergänger von Krimihelden früherer Zeiten erscheinen. Die Dialoge hingegen legen nahe, dass sich alles in der Jetztzeit abspielt.
Wo das Geschehen wie zwischen die Zeiten gefallen wirkt, scheint der zentrale Schauplatz so, als wäre er den jeder räumlichen Logik trotzenden Bildern von M.C. Escher entnommen: Burons Büro scheint zugleich tief unter der Erde wie auch in einem hohen Stockwerk zu liegen, von dem aus man auf die nächtliche Stadt hinunterblicken kann.
Hinzu kommt eine auf den Kopf gestellte Wahrnehmung, bei der alltägliches Verhalten seltsam und verdächtig wirkt, absurde und Naturgesetze missachtende Vorkommnisse hingegen fast unwidersprochen akzeptiert werden.
Ein kafkaeskes Geodreieck
Dupieux hat dies schon immer gerne an Gegenständen festgemacht, die handlungstragenden Charakter entwickeln. Zum psychokinetischen Autoreifen in „Rubber“ (2010), der in einem Wildschweinkadaver auftauchenden Videocassette in „Reality“ (2014) und der fetischisierten Wildleder-Jacke in „Le Daim“ (2019) gesellt sich mit „Die Wache“ nun ein Geodreieck dazu, über das der Plot um den kafkaesk den missgünstigen Gesetzesvertretern ausgelieferten Normalo Jean Fugain einen Hauch von Hitchcocks „Cocktail für eine Leiche“ erhält.
Als der Hauptkommissar für kurze Zeit den Raum verlässt, ist Fugain mit dessen Assistenten Philippe konfrontiert, der ihn offen als Bedrohung bezeichnet; nach einer grotesken Abfolge von Handlungen, an denen das Geodreieck beteiligt ist, liegt mit einem Mal ein weiterer Toter vor Fugain. Panisch verstaut er die Leiche in einem Schrank, bevor Buron wieder ins Zimmer kommt. Fortan ist er noch mehr darauf aus, das Verhör möglichst rasch zu beenden. Buron, an sich ein aggressiver Hektiker, scheint hingegen immer mehr Gefallen daran zu finden, die Befragung mit pedantischer Langsamkeit fortzuführen.
Der Regie-Autodidakt Quentin Dupieux hat seine Handschrift von einer Filmarbeit zur nächsten immer mehr verfeinert. Sein siebter Film, der als erstes seiner Werke auch in Deutschland ins Kino kommt, balanciert virtuos mit der surrealen Stimmung, die selbst den harmlosesten Dialogen und Handlungen Unwirklichkeit verleiht. Vorbilder wie „Monty Python’s Flying Circus“, Luis Buñuel, Bertrand Blier oder die einfallsreichen Komödien mit Pierre Richard aus den 1970er-Jahren sind offenkundig, doch Dupieux setzt dem eine eigene Variante der verzerrten Realität entgegen.
Andere „Normalitäten“
Orientiert an der Nacherzählung von Fugains sieben nächtlichen Ausflügen, deren banale Begründungen der Hauptkommissar mit gespannter Aufmerksamkeit vermerkt, entwickelt sich „Die Wache“ zu einer Komödie in bewusst gedrosseltem Tempo. Die mitunter herbe visuelle Explizitheit seiner früheren Werke spart Dupieux hier aus und konzentriert sich auf die skurril gezeichneten Figuren und die absurden Details der Mise-en-Scène, die großartige nonchalante Pointen liefern: Etwa mit dem offensichtlich von einer Maske verborgenen linken Auge des unglückseligen Philippe oder mit Rauch, der aus Burons Pullover erweicht und den der Hauptkommissar ohne weiteres damit begründet, dass er ein Loch in der Brust habe – „Das ist normal.“
Noch mehr als in seinen bisherigen Filmen schafft es Dupieux, seine Art der „Normalität“ über die Inszenierung einer Welt zu entwerfen, in der nichts dem äußeren Schein entspricht, schon gar nicht die vertrauten Erwartungen an Kino-Erzählweisen. Die Rückblenden in „Die Wache“ lösen sich rasch von ihrer simplen Aufgabe der Vergangenheitsbebilderung und holen die filmische Gegenwart dazu, wenn Philippe oder Buron auf einmal in Fugains Erinnerungen auftauchen; andere imaginierte Szenen sind auch den Figuren zugänglich und werden von ihnen kommentiert, bevor das Gezeigte im Gespräch wieder zurückgenommen wird.
Wahrscheinlichkeiten spielen keine Rolle
Ohne je anarchisch zu werden oder gesellschaftskritisch sein zu wollen, hat sich Dupieux einen filmischen Strudel als Ziel gesetzt, der bei höchster Konzentration der Inszenierung ständig unvorhersehbare Schlenker erlaubt und dabei unaufdringlich und kurzweilig bleibt. Ein zu Beginn fast nackt vor ein Orchester auf einer Wiese tretender Dirigent kann auch als treffliches Bild für den Regisseur gelten: Wo die erzeugte Illusion so verführerisch ist, darf jede Wahrscheinlichkeit gerne wegfallen.