„Ach, was ich dir noch sagen wollte...“, beginnt Aron einen Satz, bevor er jäh unterbrochen wird. Bald darauf liegt der junge Mann in seinem Blut am Boden und haucht zur Geliebten seine letzten Worte: „...Dein Anfang“.
Schon dieser Beginn von „Mein Ende. Dein Anfang“ ist ein überaus romantischer Moment, ein zugespitzter Augenblick filmischer Grenzerfahrung, in dem die Empfindungen der Figuren und des Publikums für Sekundenbruchteile in eins fallen: Es ist etwas Fürchterliches geschehen, das unsere Vorstellungskraft sprengt, das man noch nicht ganz zu erfassen vermag. Aber man kann es fühlen. Genau hier, in der Entfesselung der Empfindung, liegt die Kunst der Regie bei „Mein Ende. Dein Anfang“.
Kleine Überschreitungen und Entgrenzungen
Die Regisseurin Mariko Minoguchi, die auch das Drehbuch zu ihrem Filmdebüt geschrieben hat, bietet viele solcher herausgehobener Augenblicke, kleinen Überschreitungen und Entgrenzungen. Mal ist es das furchterfüllte Flehen eines Vaters, dessen Tochter wie aus dem Nichts auf dem Spielplatz zusammengebrochen ist, mal ein Paar, das durch die Stadt rennt, ein Taumel am Rande einer vielbefahrenen Straße, aber auch ein einfühlsam-humorvoller Trost in einer Minute existentieller Angst. Oft regnet es, oft sind diese Momente mit Musik verbunden: Einmal sieht man den von Edin Hasanovic gespielten Natan, einen neuen Bekannten von Nora, in einer Karaoke-Bar ein Lied singen. Er macht das nicht richtig gut, aber dennoch echt und berührend, und das fühlt Nora. Da bricht ihre Verzweiflung in stummen Tränen aus ihr heraus.
Oft sind es auch nur kurze Blicke, in denen die ganze Intensität dieses Films enthalten ist. Einmal läuft Nora, die am Nachmittag ihren Freund Aron verloren hat und trotzdem zur Arbeit gegangen ist, in voller Absicht und großer Wucht ungebremst gegen eine Stahltür – um mit dem einen Schmerz den anderen zu betäuben. Dann ein Schnitt und man sieht Nora und Aron zum „Münchener Freiheit“-Schlager „Ohne Dich“ tanzen und den Text stumm mitsingen. Dann wieder ein harter Schnitt, und plötzlich sitzen Natan und seine Tochter im Krankenhaus und erhalten die schockierende Leukämie-Diagnose: „30 bis 50 Prozent Heilungschance.“ Katrin Röver spielt in einem phänomenalen Nebenauftritt diese Ärztin als Ausbund trockener Nüchternheit, die den Schrecken durch Sachlichkeit zu bannen versucht. Da bekommt das Erschütternde einen Witz, wie er nur im Angesicht der Katastrophe möglich ist.
Eine Relativitätstheorie der Liebe
Minoguchi erzählt a-chronologisch, orientiert an Dramaturgien, wie sie Alejandro González Iñárritu, etwa in „21 Gramm“, und vor allem Christopher Nolan mit „Inception“ perfektioniert haben. Eine gewissermaßen theoretische Einführung in den Aufbau des Films ist die Anfangsszene, in der Aron, ein begabter Doktorand der Physik, bei einer Vorlesung über die Erfahrung des „Déjà-vu“ philosophiert und dieses „naturwissenschaftlich“ aus der Signatur der Raumzeit zu erklären versucht: In Träumen und „Déjà-vus“ erinnern wir uns an unsere Zukunft.
Die Relativitätstheorie, die hier im Folgenden entfaltet wird, ist allerdings eine der Liebe. Denn das ideale Paar Nora und Aron, das man in den ersten Minuten kennenlernt, wird durch einen Schuss bei einem Banküberfall bald darauf jäh auseinandergerissen. Von da an zeigt „Mein Ende. Dein Anfang“ in Zeitsprüngen einerseits die Vorgeschichte ihrer Liebe. Zugleich ist zu erleben, wie Nora an den Tagen danach Trauer, Schmerz, Wut und Rachegedanken in Clubs betäubt. Dort lernt sie Natan kennen, der so ganz anders ist als Aron, aber auch ein Verlorener, Gepeinigter – womöglich durch die Sorge um seine Tochter. Es gibt aber auch noch etwas anderes, ein oder zwei Geheimnisse, die beider Verhältnis von Grund auf neu justieren.
„Alles ist für immer“
Dies ist ein Film, der einen großen Bogen schlägt, und dabei von vielen kleinen Details lebt. Es geht um zwei Menschen, die sich in ihrer Verzweiflung finden. Es geht um Nora, eine Frau zwischen zwei Männern – was die a-chronologische Erzählung noch betont –, und darum, wie man mit einer traumatischen Erfahrung umgeht. Es geht auch um Paradoxa, wie sie das Déjà-vu vor Augen führt. Einmal sagt Nora zu Aron: „Nichts ist für immer.“ Er antwortete: „Alles ist für immer. Zufälle sind nur ein Mangel an Information.“ Und weiter: „Alles, was du gemacht hast, hat dich genau hierhergeführt.“ Konsequent zu Ende gedacht hieße dies: Noch Arons Tod dient dazu, dass Nora das tun kann, was darauf folgt. Stirbt Aron, um ein anderes Leben zu schenken?
Ins Bild gefasst ist das durch „Schrödingers Schrank“, in dem Porzellanteller derart angeordnet sind, dass sie beim Öffnen sofort herausfallen müssen: „Die Teller sind eigentlich schon kaputt, obwohl sie noch heil sind.“ Das erinnert an das quantenphysikalische Gedankenspiel von „Schrödingers Katze“ und ist doch auch ein guter Witz.
Handwerklich arbeitet die Regisseurin vor allem mit konsequentem, intensivem Tempo. Mit kurzen subtilen Signalen wie einem Finger, um den ein Pflaster gewickelt ist. Das hilft bei der Orientierung im Zeitraum. Ihr zur Seite steht ein bis in die Nebenrollen überdurchschnittliches Ensemble, aus dem Saskia Rosendahl herausragt. Sie ist die Herzkammer von „Mein Ende. Dein Anfang“ und seiner präzisen Konstruktion. Rosendahl zeigt in jedem ihrer bisherigen Filme eine ganz andere Facette; hier ist es eine Mischung aus Erschütterung und Unverwüstlichkeit. Ihre Verwundung ist immer zu sehen, und zugleich ist sie als Nora auch ein ganz normaler Mensch ohne Kapricen.
Unbedingtes Kino
„Mein Ende. Dein Anfang“ ist ein großer Wurf. Unbedingtes Kino, das mehr will, als es die fernsehdominierten Dramaturgien und Ästhetiken in Deutschland gemeinhin zulassen. Man sieht diesem Film an, dass Minoguchi – eine versierte Autorin, die auch für andere Regisseure Drehbücher schreibt – nicht an einer Filmhochschule studiert hat, sondern eine Autodidaktin ist, die vor allem dadurch gelernt hat, dass sie viele Filme gesehen hat.
Im Nachdenken über „Mein Ende. Dein Anfang“ könnte einem noch auffallen, dass der Name Natan ein Palindrom ist, genau wie der seiner Tochter Ava. Wie auch Nora und Aron, wenn man sie zusammenliest. Unverbunden aber, und so erschließt sich der ganze Sinn von Titel und Beginn erst am Schluss, ist sein Name der ihre, von hinten gelesen – so wie der Zeittunnel nach Arons These in beide Richtungen durchschritten werden kann.
Auch der Film von Mariko Minoguchi ist von zwei Richtungen lesbar: Ein Liebesthriller, den man nicht übersehen darf, avantgardistische Unterhaltung, die herausfordert, indem sie dort unterhält, wo man es am wenigsten erwartet.