Drama | Deutschland/Frankreich/Großbritannien/USA 2019 | 102 Minuten

Regie: Julie Delpy

Als die Ehe einer Immunologin zerbricht, verbeißt sich die Frau immer mehr in die Vorstellung, eine einzigartige Verbindung zu ihrer Tochter zu haben. Als das Mädchen nach einem Unfall auf dem Spielplatz stirbt, kippt das Beziehungsdrama in einen Thriller mit Science-Fiction-Anleihen, weil sich die trauernde Wissenschaftlerin auf illegale Möglichkeiten des Klonens einlässt. Das packende Drama kreist mit existenziellem Ernst um Macht- und Ohnmachtserfahrungen von Mutterschaft und bindet ambivalente ethische Fragen über das Recht auf selbstbestimmte Reproduktion aus einer feministischen Perspektive mit ein. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
MY ZOE
Produktionsland
Deutschland/Frankreich/Großbritannien/USA
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Amusement Park Film/Electrick Films/Magnolia Mae Films/Metalwork Pict./Tempête sous un crâne Prod.
Regie
Julie Delpy
Buch
Julie Delpy
Kamera
Stéphane Fontaine
Schnitt
Isabelle Devinck
Darsteller
Julie Delpy (Isabelle Perrault) · Sophia Ally (Zoe Perrault-Lewis) · Richard Armitage (James Lewis) · Daniel Brühl (Thomas Fischer) · Gemma Arterton (Laura Fischer)
Länge
102 Minuten
Kinostart
14.11.2019
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Science-Fiction
Externe Links
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Ein feministisches Beziehungsdrama um eine Immunbiologin, die ihr Kind verliert, ihr Schicksal aber nicht annehmen will.

Diskussion

Eine werdende Mutter hat die Arme um ihren Körper geschlungen. In der Nähe zu ihrem noch ungeborenen Kind tritt ihre Umgebung in die Unschärfe zurück. Sie scheint völlig versunken in das Wunder des Lebens, das sich in ihrem schwangeren Leib ankündigt. Doch das lange Verweilen der Kamera auf ihren Händen verunsichert zunehmend den Blick auf diese transzendente Szene. Trägt sie das Kind unter ihrem blutroten Kleid in liebevoller Absicht? Oder umklammert sie es eisern, wie einen Besitz?

Schon die ersten, noch ungerahmten Augenblicke des feministischen Beziehungsdrama „My Zoe“ von Julie Delpy gehen unter die Haut. Sie markieren eine deutliche Abkehr von ihren leichten Screwball-Komödien wie „2 Tage Paris“ oder „Lolo - Drei sind einer zu viel“ zugunsten einer kühleren und radikaleren Erzählweise. Denn auch wenn ein großer Teil des Films das Auseinanderbrechen einer Ehe minutiös porträtiert, sind die Dialoge nicht auf leichtfüßige Pointen aus. Vielmehr öffnen sie ethischen Fragestellungen den Raum, die sich um die Reproduktion menschlichen Lebens drehen. Mit dezenten Anleihen ans Science-Fiction-Genre umkreist Delpy in ebenso fesselnder wie unheimlicher Weise Macht- und Ohnmachtsdimensionen der Mutterschaft.

Geschlechterdifferenzen

Die von ihr selbst gespielte Immunologin Isabelle arbeitet in einem Berliner Labor und ringt damit, ihre Karriere mit der Kinderbetreuung zu vereinbaren. Jede freie Minute, die sie mit ihrer kleinen Tochter Zoe (Sophia Ally) verbringen kann, ist hart umkämpft – und eine verbindliche Sorgerechtsvereinbarung mit ihrem Ex-Mann James (Richard Armitage) nicht in Sicht. Eine bunte Altbauwohnung im Prenzlauer Berg in Berlin wird zum Schauplatz des bitter-realistischen Schlagabtauschs zwischen den Geschlechtern.

James fühlt sich als Partner ebenso zurückgesetzt wie in seiner Rolle als Vater des Kindes. Der aus Großbritannien stammende Architekt ist es gewohnt, durch nachdrückliche Forderungen zum Erfolg zu kommen. Für Isabelle ist dieser Druck jedoch nur eine weitere Belastung unter vielen, denen sie als berufstätige Frau ausgesetzt ist. Wie ein Schatten liegt sein Vorwurf, dass sie keine gute Mutter sei, über dem ersten Drittel des Films. Jeder gemeinsame Moment mit ihrer Tochter scheint für Isabelle unter Beweis stellen zu müssen, dass ihr Mann sich im Unrecht befindet und nicht über ihre einzigartige Verbindung zu Zoe verfügt. Ihre quirlige Verspieltheit mit Kind kippt immer mehr in ein kontrollierendes, einnehmendes Verhalten, das für Irritationen sorgt.

Grenzenlose Mutterliebe

Der ausgedehnte Alltag, den „My Zoe“ zeigt, wird schließlich zum Fallstrick für die Zuschauer. Unmerklich hat der Film durch scheinbar banale Szenen zwischen Mutter und Tochter Beschützerinstinkte für das Kind geweckt und eine Nähe hergestellt, der man sich kaum entziehen kann. Als die leuchtenden Augen des so lebhaften sommersprossigen Mädchens sich eines Morgens nicht mehr öffnen, kippt der Film mit ganzer Wucht in ein Horrorszenario.

Isabelle taumelt vom Krankenwagen auf die Flure der Intensivstation und wird von immer neuen Hiobsbotschaften überrumpelt. Ein lokales Aneurysma im Gehirn des Mädchens erzeugt unvorhergesehene Komplikationen, und die überforderte Tagesmutter gesteht nach einigem Zögern, dass sich in Isabelles Abwesenheit auf dem Spielplatz doch ein Unfall ereignet hat.

Vom höhepunktarmen Ehedrama wandelt sich der Film in einem erstaunlich effizienten Thriller, der den Albtraum jeder Mutter wahr werden lässt: Das eigene Kind verliert sein Leben, während man es in die Obhut einer anderen gegeben hat.

In dem Kinderlied „My Zoe“, das Isabelle einmal für ihre Tochter geschrieben hat und das sie ihr im Film oft vorsingt, hat sich der Tod auf merkwürdige Weise schon eingeschrieben. Die Reime erzählen nicht nur von der grenzenlosen Liebe, sondern auch von Isabelles eigenem Vater, der zeitgleich mit Zoes Geburt verstorben ist.

Abwehr des Todes

Ein weiteres Mal nimmt der Film eine radikale Wendung. Waren die elastischen Smartphones und futuristischen Chatprogramme zu Beginn nur diskrete Hinweise auf die zeitliche Verortung der Geschichte in einer nahen Zukunft, zeigt sich diese plötzlich in der realen Möglichkeit des Klonens. Als Immunbiologin weiß Isabelle, dass man Hautzellen durch bestimmte Verfahren auf ihre Stammfunktion zurückführen kann. Ein forschungsorientierter Frauenarzt (Daniel Brühl), der aufgrund rechtlicher Einschränkungen der Reproduktionsmedizin nach Moskau ausgewandert ist, weiß wiederum, wie man diese als Eizellen in Frauen einpflanzt, die bereits über Fünfzig sind.

Julie Delpy hält die damit verbundenen ethischen Fragen bewusst ambilavent und beleuchtet das Recht auf selbstbestimmte Reproduktion aus einer feministischen Perspektive. Wenn Männer im hohen Alter Kinder zeugen können, warum sollte das nicht auch Frauen möglich sein, wenn die Medizin die Voraussetzungen dazu schafft? Was würde sich ändern, wenn das enge biologische Zeitfenster der Empfängnis weibliche Lebensentwürfe nicht mehr dominiert?

Die Idee zu „My Zoe“ ist aus einem Gespräch mit dem polnischen Regisseur Krzysztof Kieslowski entstanden, in dessen „Drei Farben: Weiß“ Delpy 1994 die Hauptrolle spielte. Gegenstand war damals der Zusammenhang von Determinismus und Elternschaft und die Idee, „einen Film gegen das Schicksal“ zu drehen.

Ein neuer Blick auf die Ethik des Klonens

Man kenne Witwen und Waisen, erzählt Isabelle im Film, aber keine Sprache der Welt habe ein Wort für Eltern, die ihre Kinder verloren haben. Diese existenzielle Angst wurde für Delpy zum Motor für den Drehbuchprozess und reflektiert auch ihre eigenen Erfahrungen. Innerhalb eines Monats hat sie selbst ihre Mutter verloren und ist zur Mutter geworden.

Vieles in „My Zoe“ ist auch Ausdruck einer Unmöglichkeit zu Trauern, bis hin zur Verleugnung des Todes. Es spielt für Isabelle irgendwann keine Rolle mehr, ob Zoe in ihrer Einzigartigkeit verloren ist, da sie über ihre genetischen Koordinaten verfügt. Ein solcher Herrschaftsanspruch der Mutter auf das von ihr zur Welt gebrachte Leben ist zutiefst unheimlich und wird von Delpy als gelungene Provokation in Szene gesetzt.

„My Zoe“ hat den Mut, die Grauzone zwischen emanzipatorischer Selbstermächtigung und weiblicher Allmachtsfantasie zu erforschen und zugleich einen neuen Blick auf die viel diskutierte Ethik des Klonens zu werfen.

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