Für die Kindergärtnerin Lisa (Maggie Gyllenhaal) ist es eine Offenbarung, als Jimmy, einer ihrer Schützlinge, plötzlich in Versen spricht. Das kleine Gedicht über eine Frau oder ein Mädchen namens Anna hat der Knirps, davon geht Lisa aus, selbst ersonnen. Laut seiner Nanny macht er das öfters – still werden, auf und ab gehen und dann plötzlich Gedichte mit poetischen Bildern von sich geben, die eine Beobachtungsgabe, eine emotionale Reife und ein Sprachgespür verraten, die für sein Alter verblüffend sind. Ein Wunderkind, ein kleiner „Mozart“ der Poesie, findet Maggie, für die Lyrik so viel bedeutet, dass sie sich selbst als Dichterin versucht und gerade einen Abendkurs zu dem Thema besucht. Sie ist wild entschlossen, dieses Talent in Jimmy zu hegen und zu fördern, koste es, was es wolle.
Sara Colangelos „The Kindergarten Teacher“, 2018 beim Sundance-Filmfestival mit einem Regie-Preis geehrt, ist ein US-Remake des israelischen Films „Ich habe ein Gedicht“ von Nadav Lapid („Synonymes“), doch obwohl sich das Drehbuch in wesentlichen Punkten an die Vorlage hält, fühlt sich ihr Film ganz anders an. Was natürlich schon mit dem Kulturtransfer zusammenhängt – in Lapids Film um den Jungen (der an Lapids eigene Kindheit und Lyrik-Obsession angelehnt ist), die Kindergärtnerin und die Gedichte spielt im Hintergrund immer die israelische Gesellschaft als Reibungsfläche eine Rolle, während Sara Colangelo den Stoff nach New York verlegt. Noch wichtiger ist aber, dass Colangelo die Perspektive verschiebt: während diese bei Lapid zwischen der Erzieherin und dem Kind changiert, macht Colangelo mit dem Titel ernst und fokussiert ganz auf die Perspektive der Kindergärtnerin. Die kindliche Lebens- und Erfahrungslust und die Offenheit, die Lapids Film einige seiner schönsten Sequenzen schenken, geht Colangelos Film damit verloren – zugunsten eines intensiven, im Laufe des Films immer mehr ins Verstörende spielenden Frauenporträts.
Konzentration auf eine ebenso faszinierende wie komplexe weibliche Hauptfigur
Was für den Film am Talent des Jungen zählt, ist entsprechend das, was es bei der erwachsenen Frau aktiviert. Die Worte (die u.a. die Lyriker Kaveh Akbar und Ocean Vuong geschrieben haben) scheinen in einer Art von leerem Raum widerzuhallen, den Lisa in sich trägt: Obwohl ihr Leben sowohl beruflich als auch privat als Ehefrau und Mutter zweier fast erwachsener Teenager-Kinder in Staten Island gut situiert erscheint, ist da ein Hunger, den ihr Dasein, das vor allem in der Fürsorge für andere zu bestehen scheint, nicht stillt. Für Lisa ist Lyrik, ganz im Sinne der Romantik, eine Art Akt des Widerstands: gegen die Banalität des bürgerlichen Lebens, gegen die Oberflächlichkeiten der amerikanischen Konsum-Kultur, wohl auch gegen die eigene marginalisierte Rolle. Und offensichtlich wünscht sich Lisa nichts sehnlicher, als Widerstand zu leisten. Nachdem ihr das alleine nicht gelungen ist und sie sich selbst als Frau mit künstlerischen Ambitionen zur Unsichtbarkeit verdammt sieht, entdeckt sie in Jimmy offensichtlich den perfekten Verbündeten und Stellvertreter – womit sie freilich das Kind heillos überfordert.
Eine Glanzleistung von Maggie Gyllenhaal
Und so spürt man früh, dass etwas nicht stimmt mit der Art und Weise, wie Lisa immer mehr beginnt, sich auf Jimmy zu fokussieren und auf seine lyrischen Erfindungen zu warten wie eine Gläubige auf die Worte eines Propheten. Dabei beginnt es zunächst harmlos: Lisa erkundigt sich bei Jimmys Nanny nach dessen poetischen Neigungen und animiert sie dazu, die Worte des Jungen mitzuschreiben; und sie nimmt Jimmy im Kindergarten beiseite und versucht, ihn zum Dichten anzuregen. Doch allmählich schießen ihre Förderungs-Versuche – sowohl inszenatorisch als auch darstellerisch ungemein subtil und mit einem genauen Augenmaß für Gesten und zwischenmenschliche Interaktionen umgesetzt – mehr und mehr übers Ziel hinaus. Spätestens als sie in dem Lyrik-Kurs, den sie nach Feierabend besucht, anfängt, Jimmys Gedichte als ihre eigenen auszugeben, und als sie dafür sorgt, dass Jimmys Vater dessen Nanny feuert und stattdessen Lisa mehr Betreuungszeit anvertraut, ist klar, dass Lisa auf eine Weise anfängt, Grenzen zu überschreiten, die für ihren Schützling nicht gut sein kann.
Und so entwickelt dieses Drama um eine Frau, für die die Kunst immer wichtiger und das normale Leben immer unwichtiger wird, langsam, aber sicher Züge eines Psychothrillers. Wobei es Maggie Gyllenhaal auf bewundernswerte Weise schafft, dass man ihrer Figur trotz deren beunruhigender Entwicklung die Empathie nie versagen kann: Sie mag keine eigenen Worte haben für die unterdrückten Sehnsüchte, die Jimmys Gedichte hervorrufen – der Film macht sie aber trotzdem fühlbar.