Dokumentarfilm | Italien/Schweiz 2019 | 70 Minuten

Regie: Adele Tulli

Der Dokumentarfilm beobachtet eine Fülle von Alltagsszenen junger und erwachsener Menschen in Italien, in denen rollentypisches Verhalten als absurdes Konstrukt entlarvt wird. Dabei geht es insbesondere um Eigenschaften, die als typisch weiblich oder typisch männlich gelten. Trotz skurriler Beobachtungen wirkt der Film aber statisch, weil er sich damit begnügt, immer genau jenes Verhalten zu zeigen, das dem Klischee entspricht. Ohne Voice Over oder Off-Kommentare soll allein die Dauer der Einstellungen eine Offenheit und Ambivalenz vermitteln, in der sich das „normale“ Verhalten selbst demaskiert. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
NORMAL
Produktionsland
Italien/Schweiz
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Archivio Audiovisivo del Movimento Operaio e Democratico (AAMOD)/FilmAffair/Ginestra Film/Intramovies/Istituto Luce Cinecittà/Rai Cinema
Regie
Adele Tulli
Buch
Adele Tulli
Kamera
Clarissa Cappellani · Francesca Zonars
Musik
Andrea Koch · Davide Pesola · Paolo Segat · Riccardo Spagnol
Schnitt
Elisa Cantelli · Ilaria Fraioli · Adele Tulli
Länge
70 Minuten
Kinostart
03.10.2019
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Der Dokumentarfilm beobachtet eine Fülle von Alltagsszenen junger und erwachsener Menschen in Italien, in denen rollentypisches Verhalten als absurdes Konstrukt entlarvt wird.

Diskussion

Stoisch blickt das junge Mädchen in die Kamera, während ihr zwei Ohrlöcher gestochen werden. Verschiedene Hände kommen ins Bild, die ihre Haare hochhalten und die Wange tätscheln; Stimmen sind zu hören, die sie als schön und süß bezeichnen. Auch in der nächsten Einstellung sieht man ein Kind, das fast wie eine Puppe drapiert wird. Diesmal ist es ein Junge, der sich für ein Kindermotorradrennen vorbereitet. Während ihn sein Vater in einen Lederanzug zwängt, versichert er ihm, dass er ein furchtloser Löwe sei.

Schon in den ersten Minuten des Dokumentarfilms „Normal“ legt die italienische Regisseurin Adele Tulli ihr Programm offen: Sie widmet sich jenen Eigenschaften, die als typisch weiblich und männlich gelten – und entlarvt das scheinbar Normale als geradezu gewalttätigen Eingriff von außen.

Im Laufe des Films stehen nicht nur ständig neue Personen vor der Kamera, sondern auch unterschiedliche Altersgruppen. Mal sind es aufgekratzte Teenagerinnen, die ihre erotische Sehnsucht auf den You Tuber Antony Di Francesco projizieren, oder gleichaltrige Jungs, die sich durch kriegerische Computerspiele ballern. Ein anderes Mal sieht man Bräute in spe, die in einem Workshop darauf vorbereitet werden, ihre Gatten wie Kinder zu umsorgen, oder einen „Pick-Up-Artist“, der einem jungen Nerd beibringt, wie ein richtiger Alpha-Rüde mit den Kommentaren „verbitterter“ Frauen umzugehen hat.

Kein besonderer Erkenntnisgewinn

Die geschlechtsspezifischen Zuschreibungen sind dabei fast immer die gleichen: Während Jungs starke Subjekte sein sollen, haben Mädchen zu dienen und hübsch auszusehen. Nun steckt in der bloßen Feststellung, dass sich solche patriarchalen Muster immer noch in der italienischen Gesellschaft finden, kein besonders großer Erkenntnisgewinn. Da die Inszenierung sowohl auf Voice Over wie auch auf Interviews verzichtet, liegt die Hoffnung, tiefer in die Materie einzudringen, ganz in dem, was die Bilder erzählen. Allerdings versammelt der Film zwar skurrile Fundstücke wie ein rosa Spielzeug-Bügelbrett, das Mädchen auf ihre Hausfrauenrolle vorbereiten soll, oder präsentiert unterhaltsame Figuren wie einen Hochzeitsfotografen, der unermüdlich seine Geschlechtsgenossen anfeuert, doch das filmische Konzept hindert die Inszenierung daran, sich zu entwickeln.

Wie es der Titel des Films schon verrät, konzentriert sich „Normal“ eben nicht auf Grauzonen, Sonderfälle oder Widersprüche, sondern versucht die abstrakte Definition von Normalität mit konkreten Beispielen anzureichern. In gewisser Weise will der Film im Alltäglichen das Klischee aufdecken. Die Inszenierung ist weder daran interessiert, was die Menschen antreibt, noch geht sie der Frage nach, warum es überhaupt eine Sehnsucht nach starren Rollen gibt. Stattdessen fokussiert die Kamera auf das, wo man Normalität zu entdecken glaubt, und hofft darauf, dass sie sich selbst demaskiert. Mitunter hilft die Inszenierung auch etwas nach. So wie bei einem harmlosen Model-Casting, bei dem die Kamera eine Objektivierung der Frauen vermitteln will, in dem sie sich nicht auf deren Gesichter, sondern auf ihre Hinterteile konzentriert.

Weder Offenheit noch Neugier

Der Film verrät weder Offenheit noch Neugier, weil er schon von Anfang an zu wissen scheint, was er zeigen möchte, und der seine Darsteller nur als Statisten der Selbstvergewisserung braucht. Der Tiefpunkt ist eine Sequenz, die vermutlich bei einem Biker-Treffen entstanden ist und Frauen zeigt, die sich im hautengen Leder-Outfit in sexuell aufreizende Posen werfen, während Männer mit Hämmern ein Auto zertrümmern. Hier entlarvt sich „Normal“ unverstellt als eine Form des dokumentarischen Kinos, das zwar mit längeren Einstellungen ein Gefühl von Offenheit und Ambivalenz vermittelt, tatsächlich aber nur das zeigt, was es sehen will. Statischer geht es nicht.

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