Die Mafia ist auch nicht mehr das, was sie mal war
Dokumentarfilm | Italien 2019 | 105 Minuten
Regie: Franco Maresco
Filmdaten
- Originaltitel
- LA MAFIA NON È PIÙ QUELLA DI UNA VOLTA
- Produktionsland
- Italien
- Produktionsjahr
- 2019
- Produktionsfirma
- Ila Palma/Dream Film/Tramp Ltd.
- Regie
- Franco Maresco
- Buch
- Franco Maresco · Claudia Uzzo · Francesco Guttuso · Giuliano La Franca
- Kamera
- Tommaso Lusena
- Musik
- Salvatore Bonafede
- Schnitt
- Edoardo Morabito · Francesco Guttuso
- Länge
- 105 Minuten
- Kinostart
- 26.08.2021
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Der sizilianische Dokumentarist Franco Moresco nutzt den 25-jährigen Jahrestag der Morde an den Mafia-Jägern Giovanni Falcone und Paolo Borsellini für ein absurd-komisch-zynisches Mentalitätsbild seiner Heimat.
„Wir sollten uns klar darüber sein, dass wir Leichen sind, die noch laufen können“, sagte Paolo Borsellini, Oberstaatsanwalt Palermos, wenige Tage, bevor er 1992 zusammen mit seinem Begleitschutz in die Luft gesprengt wurde. Zwei Monate zuvor wurde sein Freund, der Ermittlungsrichter Giovanni Falcone, zusammen mit seiner Ehefrau und dem Begleitschutz auf einer Autobahn getötet.
Die beiden Juristen hatten in den 1980er-Jahren eine Sonderkommission zur Bekämpfung der Cosa Nostra geleitet, die 1986 in den bis dato größten Prozess gegen die Mafia mündete und rund 350 Urteile nach sich zog. Nach den Racheanschlägen erreichte die Anti-Mafia-Bewegung Italiens ihren Höhepunkt. Stets ging es dabei auch um die Verbindungen der Mafia zur italienischen Regierung.
All das sollte man wissen, wenn man sich an Franco Marescos jüngsten Streich wagt. Der sizilianische Provokateur setzt einiges an Vorwissen voraus, wenn er sich in gewohnter Reportage-Manier mitten ins Geschehen rund um die Feierlichkeiten zum 25-jährigen Jahrestag der Mordanschläge in Palermo wirft. Dort trifft er zunächst auf die Fotografin Letizia Battaglia, die seit Jahrzehnten die Gräueltaten der Mafia dokumentiert und mit großer Kraft gegen diese kämpft. Sie verkörpert ein stolzes, für den skeptischen Zyniker Maresco seltenes idealistisches Bild eines mutigen, offenen, sich wehrenden Siziliens.
Wo Widerstand zur Farce geworden ist
Später aber stößt Maresco auf den dubiosen Event-Organisator Ciccio Mira und seine Freakshow tief aus dem Herzen des Bunga-Bunga-Zirkus-Italiens. Mira plant, in einem der verrufensten Viertel Palermos eine Anti-Mafia-Party zu Ehren von Borsellini und Falcone auf die Beine zu stellen. In ihm trifft der Filmemacher auf den nicht nur moralischen Irrsinn einer sizilianischen Demut vor der Mafia und einer ganz und gar unaufgeklärten, am Ziel vorbeischießenden Erinnerungskultur, die sichtbar macht, wie sehr der Widerstand zur Farce verkommen ist.
Mira trat bereits in Marescos „Belluscone – Warum die Italiener Berlusconi lieben“ (2014) prominent in Szene. In diesem Film dokumentierte Maresco seine verzweifelten Versuche, Stimmen zu sammeln, die eine Verbindung von Berlusconi zur Mafia offenbaren. Der Film wurde eine schräge Dokumentation über die schon lange über die Cosa Nostra hinausreichende „Omertà“, jene Schweigepflicht, die das System schwer durchschaubar hält. In mancher Hinsicht tritt "Die Mafia ist auch nicht mehr das, was sie mal war" jetzt in die Fußstapfen von „Belluscone“.
Dazu muss man wissen, welche Art von Filmen Franco Maresco dreht. Am ehesten könnte man seine Arbeiten noch mit den Dokumentationen von Michael Moore oder mit „Borat“ vergleichen. Womöglich verstecken sich sogar Parallelen zum französischen Sarkasmus eines Bruno Dumont hinter diesem Ansatz, der zwischen intellektuellem Nihilismus, Ironie, grotesker Satire, aufrichtiger Agitation und absurder, politisch inkorrekter Komik schwebt.
Nie ist ganz klar, ob und wie man dem Film glauben soll. Marescos Stimme ist häufig kommentierend aus dem Off zu vernehmen, sie formt das Geschehen nachträglich. Manche Interviews wirken gestellt und geschrieben, anderes wieder direkt aus dem Leben gegriffen. Es entfaltet sich ein hochkomplexes Gebilde, in dem man sich nie richtig wohl fühlt.
Wo Spott und Humanismus beieinander liegen
Das liegt auch daran, dass der Film seine Protagonisten mehrfach bloßstellt und ihre unreflektierte Auseinandersetzung mit der Geschichte sowie ihre Angst vor der Mafia schamlos pointiert. Zugleich aber deckt er die tieferen psychologischen Schäden dieser Menschen auf und beleuchtet das zuvor entlarvte Weltbild unter ganz anderen, tragischen Aspekten. So wird Matteo Mannino, der dyslexische Produzent des Anti-Mafia-Festes, als rückgratloser Wirrkopf präsentiert, der sich nach einer losen Drohung eines Passanten während des Festes in Slapstickbewegungen immer weiter vom Geschehen entfernt und geradezu handlungsunfähig scheint. Später aber erfährt man von einer Hirnhautentzündung in seiner Kindheit und trifft ihn schwer krank und verstört in seinem Haus. So eng können Zynismus und Mitgefühl, Spott und Humanismus nebeneinander liegen.
Es bleibt die Frage, warum Maresco diese Menschen und ihre am Ziel vorbeischießenden, nicht nur in Italien weit verbreiteten Spektakel so verspielt und manipulierend präsentiert. Ist Maresco am Ende selbst Teil dieser kulturellen Krise, die nichts mehr ernst nehmen kann, der alles egal ist, solange es Spaß macht und keine Probleme gibt? Oder sagt er hier, dass auch das Kino nicht mehr das ist, was es einmal war, und entblößt in dieser kruden Mischung aus Peinlichkeitspornografie und plötzlichem Bewusstsein für die wirklichen Lebensumstände sowie durch die Präsenz Letizia Battaglias nicht auch uns Kinozuschauer als Täter dieser Haltung zur Welt?
Sich wundern über eine irrsinnige Welt
Es lohnt, darüber nachzudenken, auch wenn festgehalten werden muss, dass Maresco immer nur die Symptome dokumentiert und nie wirklich zu den Ursachen vordringt. Vergleicht man seine Arbeit etwa mit dem in den Essayband „Verführtes Denken“ des polnischen Lyrikers Czesław Miłosz, der Anfang der 1950er-Jahre analysierte, warum viele seiner intellektuellen Kollegen dem Stalinismus verfielen, fällt auf, dass Maresco - trotz durchaus paralleler Interessen - lediglich festhält, was man sowieso sehen kann. Damit krankt der Film an der gleichen, selbst auferlegten Grenze wie Sergei Loznitsas „Austerlitz“, der die Erinnerungskultur in Konzentrationslagern beobachtete und dadurch hinterfragte. Maresco durchdringt die Mafia und ihre Wirkweisen weder psychologisch noch soziologisch. Man muss sich fragen, ob man sich heute über die irrsinnige Welt nur noch wundern kann oder ob nicht mehr möglich wäre.