Man stelle sich vor, dass sich das eigene Kind schwer verletzt hat, weshalb man es auf schnellstem Weg ins Krankenhaus fährt. Doch kurz vor der Notaufnahme bleibt der Wagen im Schlamm stecken, ebenso wie alle anderen Fahrzeuge. Zwar gibt es überall asphaltierte Straßen, doch ausgerechnet die Zufahrt zum Krankenhaus gleicht einem Kartoffelacker.
Maryam ist in dieser Klinik Ärztin, und auch sie stapft täglich die letzten Meter durch Matsch zu ihrem Arbeitsplatz. Auf einer Wahlkampfparty, bei der sie für ihre Kandidatur zum örtlichen Gemeinderat wirbt, schildert sie den Gästen das Problem: Was, wenn es das eigene Kind wäre?
Die Lösung liegt auf der Hand, und alles könnte ganz einfach sein. Denn in der Gemeinde fehlt es weder an Geld noch an Ressourcen. Doch Maryam ist eine Frau. Die Menschen in ihrer streng patriarchalischen Heimat Saudi-Arabien sind es nicht gewohnt, eine weibliche Stimme zu hören. Schon ihr Job als Ärztin wirkt auf viele als Affront; manche Patienten lassen sich lieber von deutlich schlechter ausgebildeten Pflegern behandeln als von Maryam.
Stoffe mit hoher Symbolkraft
Mit „Die perfekte Kandidatin“ knüpft die Filmemacherin Haifaa Al Mansour an ihren Debütfilm „Das Mädchen Wadjda“ an. Al Mansour gilt nicht nur als erste weibliche Regisseurin aus Saudi-Arabien, sondern hat mit der Emanzipationsgeschichte um ein zehnjähriges Mädchen mit einem unbändigen Fahrradwunsch den allerersten Film überhaupt geschaffen, der komplett auf saudischem Boden gedreht wurde.
Nach weniger Aufsehen erregenden Ausflügen in den englischsprachigen Film, etwa mit „Mary Shelley“, kehrt sie jetzt mit einem ähnlich einfachen, aber effektiven Plot in ihr Heimatland – und auf die internationalen Festivalbühnen zurück.
Wo es in „Das Mädchen Wadjda“ noch um ein Kind ging, das sich die Freiheit des Fahrradfahrens erkämpfte, dreht sich „Die perfekte Kandidatin“ jetzt um eine erwachsene Frau. Sie hat sich ein kleines Stück Emanzipation erarbeitet, einen Beruf und ein eigenes Auto. Jetzt will sie zeigen, dass sie unabhängig von ihrem Geschlecht auch in der Gesellschaft etwas bewirken kann.
Zunächst stolpert Maryam eher aus Versehen in die Kandidatur für den Gemeinderat. Sie füllt den Anmeldebogen eigentlich nur aus, um zu ihrem Cousin vorgelassen zu werden. Doch dann wittert sie die Chance, endlich die Straße vor dem Krankenhaus bauen zu lassen.
Kontraste und Öffnungen
So direkt und offensiv, wie Maryam fortan ihren Wahlkampf trotz männlich-konservativem Gegenwind betreibt, inszeniert auch Haifaa Al Mansour ihren Film. Die Handlung verläuft geradlinig auf den Spuren von Maryams Wahlkampf; Steine werden ihr ausschließlich von außen in den Weg gelegt; ihre Entwicklung und das Ende des Films überraschen kaum. Doch gerade diese Unmittelbarkeit macht das Ungeheuerliche umso sichtbarer: das Ausmaß der Ungleichheit zwischen Mann und Frau in einer Gesellschaft, die inzwischen zwar einige Öffnungen bietet, deren Strukturen aber zu verkrustet sind, um einen wirklichen Wandel zuzulassen.
Im Fall von Maryam genügt die Konkretheit ihres Alltags, um durch Filmbilder das Kino im Kopf in Gang zu setzen. Die (An-)Spannung und die Widersprüchlichkeiten der Verhältnisse verdeutlicht allein schon die Kontrastierung der unterschiedlichen Pole. Während der öffentliche Raum von den strengen Regeln der Tradition beherrscht wird, etwa in Gestalt der Vollverschleierung der Frauen oder der langen weißen Gewänder der Männer, gehen in Maryams Familie Islam, weltliche Mode und Selbstbestimmung Hand in Hand.
So veranstaltet Maryams große Schwester hinter kahlen Betonmauern eine Prinzessinnenhochzeit in hohen Sälen und im verschnörkelten Disney-Ambiente, gespickt mit religiösen Lobeshymnen. Sobald der Bräutigam einzieht, werfen sich die Frauen schnell Tücher über die sorgfältigen Festfrisuren. Der verwitwete Vater geht dem „Risikoberuf“ eines Volksmusikers nach, obwohl seine Band und er um staatliche Anerkennung bangen und mitunter von muslimischen Extremisten bedroht werden.
Wenn auf ihren Konzerten starre weißgewandete Männer und ebenso starre schwarzverhüllte Frauen erscheinen und mehr und mehr zu tanzen beginnen, erzählen diese Szenen ähnlich wie die bloße Existenz von Al Mansours Filmen davon, dass sich Saudi-Arabien auch kulturpolitisch langsam öffnet.
Der Straßenbau als Sinnbild
Mit diesen und anderen Nebenfiguren und Nebenschauplätzen wird die Handlung um Nuancen ergänzt, die auf eine vielschichtigere Realität verweisen, als es Maryams Beispiel veranschaulichen kann. Als typische (Film-)Heldin mit Mission betritt sie selbstbewusst das Neuland, das sich Frauen in Saudi-Arabien bietet. So legt sie beispielsweise den Gesichtsschleier ab, der für Frauen bis ins Jahr 2018 noch verpflichtet war und an dessen Nicht-Tragen man(n) sich offenbar erst gewöhnen muss. Am Beispiel von Maryam lotet Al Mansour die neuen Möglichkeiten und Herausforderungen aus. Innerhalb des Films scheiden sich an Maryam zwar die Geister, sowohl unter Männern als auch unter Frauen. Einige Figuren bewegen sich, andere nicht. Das Sinnbild des Films, die Straße zum Krankenhaus, wird schließlich doch asphaltiert, wenngleich auf einem anderen Weg, als es sich Maryam vorgestellt hat. Ihren Platz findet sie dennoch.