Das Taxi hält vor dem prächtigen Konvent aus dem 19. Jahrhundert, der seine besseren Tage lange hinter sich hat. Die junge Nonne auf dem Rücksitz drückt das kleine silberne Kruzifix an ihren Hals. Sie richtet ihre Haube, dann steigt sie aus. Paola (Lidiya Liberman) kommt aus Italien. Die Novizin möchte in Buenos Aires ihre Gelübde auf Lebenszeit ablegen. Hier erwarten sie auch neue Aufgaben, denn im Inneren des herrschaftlichen Gebäudes existieren zwei Welten beieinander, die unterschiedlicher nicht sein können: Junge Mütter, die selbst fast noch Kinder sind, und Ordensschwestern, die mit ihrem Gelübde der leiblichen Mutterschaft entsagt haben. Das Nonnenkonvent ist ein Heim (im Spanischen: „Hogar“, so auch der Originaltitel des Films) für minderjährige Mütter, die auf Anordnung des Jugendamts in einem betreuten Wohnzentrum leben müssen. Nicht immer freiwillig und meist nur halbherzig unterwerfen sie sich der strengen Hausordnung.
„Ich will bei dir sein“
Als Paola das Gebäude betritt, sitzt Luciana (Agustina Malale) auf der Toilette und hört laute Rockmusik. Ihre vierjährige Tochter Nina ist ihr lästig, wenn sie sich beim Schminken neben sie an das Waschbecken stellt und selbst den Lippenstift auflegt: „Was machst du hier, verdammt noch mal?“ „Ich will bei dir sein“, sagt Nina leise. Aber Lu will raus in die Stadt. Dort trifft sie sich mit einem Mann. Der hat zwar eine andere, aber Lu gibt die Hoffnung nicht auf, ihn einmal ganz für sich zu haben und eine Familie zu gründen, die dann auch für ihre Tochter das Beste wäre.
Doch der Mann schlägt sie. „Ich würde nie mit einem Schläger ausgehen“, sagt Fatima (Denise Carrizo), das schwangere Mädchen, mit dem Lu das Zimmer teilt. Wenn Lu zu ihren Streifzügen in die Stadt aufbricht, lässt sie ihre kleine Tochter bei Fati. Die beiden Mütter sind sehr unterschiedlich: Lu will leben und sich durchsetzen, Fati hingegen überleben; sie will ein Dach über dem Kopf und einen ruhigen Ort für sich und ihre Kinder.
Viele der jungen Frauen kommen aus zerrütteten Familien, haben Missbrauch, Verrat und Vertrauensbruch erlebt. In dieser lebendig-chaotischen Welt voller kindlicher Mütter und zahlreicher Kleinkinder ist Paola eine überraschende Erscheinung, schon allein deswegen, weil sie viel jünger ist als die alten Nonnen des Konvents. Bei der rebellischen Luciana provoziert sie Widerspruch, doch die introvertierte Fatima erblickt in der jungen Nonne eine Vertrauensperson.
Die Nonne und das kleine Mädchen
Eines Nachts verschwindet Lu und kommt nicht mehr zurück. Ihre kleine Tochter ist traurig und wandert nachts immer in Paolas Zimmer. Die alten Nonnen sind besorgt. Wird sich die junge Schwester emotional zu stark an das Mädchen binden? Mütterlichkeit ist für Paola in der Tat ein starkes, unbekanntes Gefühl.
Wie die Protagonistin Paola kommt die Regisseurin Maura Delpero aus Italien. Sie studierte Literatur in Bologna und Paris; Drehbuch und Dramaturgie in Buenos Aires. „Maternal“ ist ihr Spielfilmdebüt. Zuvor wurde sie schon durch zwei Dokumentarfilme bekannt. Von einem dokumentarischen Blick lebt auch „Maternal“, durch die detailgenaue Beschreibung eines rein weiblichen Mikrokosmos und des Alltags der jungen Mütter mit ihren Kindern. Die Gegensätze in dieser kleinen Welt, die Auseinandersetzungen mit Sexualität, Schwangerschaft, Liebe und Kindererziehung und die scheinbar so wohlgeordnete Welt christlicher Fürsorge hätte der Stoff für ein hartes Drama sein können. Doch Maura Delpero ist weit entfernt vom engagierten Aufschrei eines Peter Mullan in „Die unbarmherzigen Schwestern“ (2002). Sie widersteht auch der Versuchung, die Protagonistinnen zu idealisieren oder zu verteufeln: Weder Lu mit ihrer mitunter selbstzerstörerischen Lebenslust noch Fati in ihrer fast melancholischen Entsagung sind reine Heldinnen. Auf der anderen Seite besitzen aber auch die alten Nonnen trotz ihrer starren Lebensweisheiten aus vergangenen Zeiten so manchen liebenswerten und gütigen Zug.
Auch Paola, die eigentliche Identifikationsfigur, zweifelt. Nachts sitzt sie ratlos vor ihrer hölzernen Christusstatue in ihrem Zimmer und entdeckt durch die enge Bindung an die kleine Nina ganz neue Bedürfnisse. Man spürt, dass Paola mit dem Nonnenschleier auch ihre Erwartungen an ein erfüllteres Leben verdecken will.
Weder Kirchensturm noch Nonnenkitsch
Sehr subtil hinterfragt der Film die Möglichkeiten der Mutterschaft, die Sozialarbeit der katholischen Kirche und die Lebensperspektiven der minderjährigen Mutter. Dabei spielen auch Diskussionen mit, die die argentinische Gesellschaft spalten: die Auseinandersetzung um ein liberaleres Abtreibungsrecht und um den Einfluss der katholischen Kirche in Argentinien, die als konservatives Bollwerk während der Militärdiktatur (1976-1983) eng an der Seite des Regimes stand. „Maternal“ schildert feinfühlig und komplex das Schicksal minderjähriger Mütter in kirchlicher Obhut. Der von einem außergewöhnlichen, aus Laiendarstellern und professionellen Schauspielern bestehenden Ensemble getragene Film beleuchtet unterschiedliche Facetten von Mutterschaft. Er bietet keine einfachen Lösungen, ist weder Kirchensturm noch Nonnenkitsch, sondern ein menschliches Drama am Rande der argentinischen Gesellschaft.
Am Ende hält wieder ein Auto vor dem Konvent. Der intensive Blick der Protagonistin zum Abschied ist einer der berührendsten Momente des Films.