La Flor
Drama | Argentinien 2018 | 808 (Akt 1: 80, Akt 2: 126, Akt 3: 94, Akt 4: 93, Akt 5: 125, Akt 6: 86, Akt 7: 104, Akt 8: 106) Minuten
Regie: Mariano Llinás
Filmdaten
- Originaltitel
- LA FLOR
- Produktionsland
- Argentinien
- Produktionsjahr
- 2018
- Produktionsfirma
- El Pampero Cine/Universidad del Cine
- Regie
- Mariano Llinás
- Buch
- Mariano Llinás
- Kamera
- Agustín Mendilaharzu
- Musik
- Gabriel Chwojnik
- Schnitt
- Alejo Moguillansky · Agustín Rolandelli
- Darsteller
- Elisa Carricajo (Marcela / Isabela) · Valeria Correa (Yanina / Andrea Nigro) · Pilar Gamboa (Victoria / Daniela "La Niña Cruz") · Laura Paredes (Lucía / Flavia) · Pablo Seijo (Gatto)
- Länge
- 808 (Akt 1: 80, Akt 2: 126, Akt 3: 94, Akt 4: 93, Akt 5: 125, Akt 6: 86, Akt 7: 104, Akt 8: 106) Minuten
- Kinostart
- 25.07.2019
- Fsk
- ab 0
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama | Experimentalfilm | Fantasy | Musical
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Eine labyrinthische, fast 14 Stunden währende Hommage an die Kunst des Geschichtenerzählens und die unerschöpflichen Erzählmöglichkeiten des Kinos.
Nach etwa 760 Minuten wendet sich der argentinische Regisseur Mariano Llinás zum letzten Mal an sein Publikum. Der Filmemacher sitzt immer noch an demselben Picknickpatz, an dem er zu Beginn von „La Flor“ die dramaturgische Struktur des Films anhand einer Skizze erklärt hatte. Inzwischen ist Llinás, der dasselbe rote Hemd wie zum Beginn trägt, um einige Jahre gealtert, bärtiger und ein wenig zerzauster. Sein Notizbuch, das sich im Laufe des Films vor den Augen der Zuschauer füllte, flattert im Wind. „Ich bin dann mal weg. Es war mir ein Vergnügen, dass Sie all die Stunden dabei waren“.
„All die Stunden“ sind genau genommen fast 14, exakt 837 Minuten, einschließlich eines 40-minütigen Abspanns und einiger musikalisch unterlegter Pausen. Llinás kokettiert mitunter zwar selbst mit der exzessiven Länge des Films (es ist der längste argentinische Film aller Zeiten), wenn er die Erzählung nach etwa einem Viertel mit einer Zeitansage unterbricht: Bis zum Ende (gemeint ist das 2. Kapitel) seien es jetzt noch soundsoviele Stunden und Minuten.
Eine überquellende Fülle an Ideen
Doch die Dauer ist nicht das primäre Moment von „La Flor“. Denn im Unterschied zu jenen überlangen, kontemplativen Mammutwerken, die ihre Kraft durch die Erfahrung von Zeit entfalten – zu nennen wären beispielsweise Filme von Lav Diaz, Bela Tarr oder Andy Warhol –, gerät „La Flor“ durch eine schier überquellende Fülle an Ideen und Erzählfäden ins Schillern.
„La Flor“ stellt das Gemeinschaftsprojekt des argentinischen Filmkollektivs El Pampero Cine und der Theatergruppe Piel de Lava dar. Der Titel des Films ergibt sich aus der anfangs erwähnten Skizze, deren sechs Linien – gebogene Pfeile, von denen jeder eine Geschichte markiert – die Umrisse einer Blume nachzeichnen.
Vier der Geschichten oder Episoden, denen jeweils ein Zitat vorangestellt ist (von René Char bis zu The Velvet Underground), haben einen Anfang und kein Ende, sie hören in der Mitte auf. Die 5. Episode hat ein Anfang und ein Ende, die 6. Geschichte beginnt in der Mitte und beendet den Film. Sie ist der Blumenstiel. Zudem ist jede Episode an ein Genre angelehnt, wobei Llinás einen großen Spaß daran hat, diese einerseits auf seinen Grundwortschatz zu verkürzen und sie andererseits zu verunklaren, etwa in Genremischungen wie „ein Musical mit einem Touch Mystery“. Zur besseren Übersicht – mit möglicherweise erst recht verwirrendem Effekt – ist das seltene Gewächs in drei Kapitel und darin wiederum in verschiedene Akte gegliedert.
Im Zentrum stehen vier Frauenfiguren
Im Zentrum des Films stehen stets vier Frauenfiguren, die in wechselnden Rollen (Agentin, Mumienforscherin, Schlagerstar etc.) von den vier Piel-de-Lava-Schauspielerinnern Elisa Carricajo, Valeria Correa, Pilar Gamboa und Laura Paredes verkörpert werden und deren sich über neun Jahre Dreharbeiten verändernden Gesichter anzusehen ein kaum zu beschreibendes Vergnügen ist, zumal Llinás die Großaufnahme ausgiebig einsetzt.
Der Wechsel der Rollen führt zu faszinierenden Metamorphosen. Hat man etwa der Schauspielerin Pilar Gamboa gerade noch dabei zugesehen, wie sie als divenhafte Sängerin ihren ehemaligen Partner mit einem Schlagerduett vernichtete („Ich bin der vergiftete Pfeil, der auf dein Herz zielt, ich bin deine Bedrohung, deine Tortur ... Ich bin der Wahnsinn, ich bin das Feuer, die Bombe, die gleich losgeht ... Ich bin der Hass, ich bin die Hölle“), so ist sie im anschließenden Teil als stumme Spionin zu sehen, die von der „Tsetse-Fliege“ gebissen wurde (was soviel heißt: sie gleitet ohne zu wissen ins andere Lager). Oder Laura Paredes, die in Episode 2 als zurückhaltende Assistentin des Schlagerstars eine undurchsichtige Rolle in einer Geheimgesellschaft hat, während sie als „La 303“ kaltblütig Auftragsmorde ausführt.
Die größte Sogkraft entwickelt der in Raum und Zeit am verrücktesten wuchernde Agentinnen-Film (326 Minuten zwischen London, Berlin, Moskau, Brüssel und „irgendwo in Südamerika“). Er spielt in den 1980er-Jahren, in den „letzten Jahren der Zeit der Spione“, und betört gleichzeitig durch abstrusen Witz wie Melancholie. Llinás reduziert das Genre auf das Skelett seiner Motiv- und Zeichenwelt: Agentinnen, die rauchend in einsamer Landschaft mit Ferngläsern herumstehen, Handzeichen und Blicke, Waffen und Trenchcoats.
Handlungsträge sind stets Frauen
Verknappt und gleichzeitig romanhaft – kurze Szenen, eine vorantreibende Erzählerstimme – entfalten sich die Geschichten der Hauptspioninnen, um die sich eine enorme Zahl an Nebenfiguren gruppieren, darunter auch eine „Mutter“ genannte Bienenkönigin der gegnerischen Spioninnen (Handlungsträgerinnen sind stets Frauen) und der fast comicartige Noir-Charakter Casterman. Von seinem Brüsseler Büro aus dirigiert der auch als „der Mann, der nie lachte“ bekannte „Spymaster“ vom Telefon aus die Geschäfte. Besonders hinreißend ist die Geschichte der Auftragsmörderin La 303 und ihres Partners, die zu Tarnungszwecken jahrelang ein frisch verheiratetes Liebespaar spielen und dabei unwissentlich Gefühle füreinander entwickeln. Als sie es schließlich wissen – der Off-Erzähler weiß es schon lange vorher – ist es natürlich zu spät.
In dem Wunderwerk „La Flor“ enthalten sind außerdem ein B-Movie mit einer verfluchten Mumie („Die Art, wie sie die Amerikaner mit geschlossenen Augen drehten und jetzt nicht mehr beherrschen“), ein Meta-Film, in dem ein durch jahrelange Dreharbeiten strapazierter Regisseur (Llinás) sich seiner vier fordernden Darstellerinnen entledigt, indem er ein Jahr nur Bäume filmt, in denen er irgendwann Gesichter zu erkennen glaubt, und eine Stummfilm-Paraphrase von Jean Renoirs „Eine Landpartie“.
Die letzte Episode erzählt in rätselhaft verschwommenen Bildern von vier Frauen, die jahrelang von Indianer gefangen gehalten wurden und ihren Weg zurück in die Zivilisation suchen.
Ein einzigartiges Werk
Es ist sicherlich keine Übertreibung zu sagen, dass Llinás den Begriff des Pastiches noch einmal ganz anders erfindet – jenseits postmoderner Dekonstruktionsmanöver. Denn „La Flor“ unterhält kein stabiles Verhältnis zu seiner jeweiligen Vorlage, sondern schlingert unvorhersehbar zwischen Genrezitaten und Genreverfehlungen, gedrosselten, auf der Stelle tretenden und vorwärtstreibenden Tempi, konzeptueller Klarheit und labyrinthischer Unübersichtlichkeit.
Unebenheiten und sich absichtsvoll in die Länge ziehende Passagen – in der Meta-Episode steht ein Teammitglied während des ganzen „Frühling“-Teils von Vivalidis „Vier Jahreszeiten“ in der Gegend herum und isst Bananen – sind Teil des Programms. Erwähnen muss man auch die fantastische Musik, etwa die den Suspense eher kommentierenden als evozierenden Percussion und die Pauken im Spionageteil.
Es gäbe zu „La Flor“, der einen wie die Tsetse-Fliege beißt, noch viel mehr zu berichten: über die Operation Hercules, auf Besen fliegende Hexen, Skorpiongift, den Schrei von Munch in einem Trompetenbaum und unendlich viel mehr.