Escape at Dannemora
Drama | USA 2018 | 425 (acht Episoden) Minuten
Regie: Ben Stiller
Filmdaten
- Originaltitel
- ESCAPE TO DANNEMORA
- Produktionsland
- USA
- Produktionsjahr
- 2018
- Produktionsfirma
- Phosphene/Red Hour Films
- Regie
- Ben Stiller
- Buch
- Brett Johnson · Michael Tolkin · Jerry Stahl
- Kamera
- Jessica Lee Gagné
- Musik
- Edward Shearmur
- Schnitt
- Geoffrey Richman · Malcolm Jamieson
- Darsteller
- Benicio Del Toro (Richard Matt) · Patricia Arquette (Tilly Mitchell) · Paul Dano (David Sweat) · Bonnie Hunt (Catherine Scott) · Eric Lange (Lyle Mitchell)
- Länge
- 425 (acht Episoden) Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12 (Episoden 1-5,7
8)
ab 16 (Episode 6) - Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Drama | Serie
Heimkino
Mini-Serie um einen auf wahren Ereignissen beruhenden Gefängnisausbruch im US-Bundesstaat New York aus dem Jahr 2015, bei dem die beiden verurteilten Mörder auf die Hilfe einer verheirateten Gefängnisangestellten zählen konnten, die mit beiden ein Verhältnis hatte.
Joyce „Tilly“ Mitchell, Gefängnisangestellte der „Clinton Correctional Facility“ in Dannemora im Staat New York, streitet bei ihrer Vernehmung ab, mit den Häftlingen David Sweat und Richard Matt Sex gehabt zu haben. Der Zuschauer aber weiß, dass sie lügt. Die Affäre hinter Gittern und der Ausbruch, den Tilly ihren beiden zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilten Liebhabern im Jahr 2015 ermöglichte, sorgte seinerzeit für enormen Medienwirbel. In der von Ben Stiller inszenierten Mini-Serie „Escape at Dannemora“ schlüpft Patricia Arquette in die Rolle der skandalisierten Helferin verwandelt den Part einer nahe am Klischee der von ihrer kleinbürgerlichen Existenz gelangweilten Naiven, die sich von zwei raffinierten Kriminellen verführen lässt, in eine der herausforderndsten Frauenfiguren seit Langem.
Das liegt nicht nur an dem Arquettes Mut, sich das unglamouröse Äußere dieser Frau aus der Arbeiterschicht anzueignen und diverse ästhetisch nicht gerade vorteilhafte Sexszenen zu absolvieren. Mehr noch ist es die mit Bitterkeit durchsetzte Energie, die sie der Figur mit auf den Weg gibt. Es gelingt Arquette bravourös, Tilly fast nahtlos vom Opfer einer bedrückend eingeschränkten familiären wie beruflichen Existenz zur mutwilligen (Mit-)Täterin changieren zu lassen. Keineswegs verschämt, sondern unbekümmert angesichts der scheelen Blicke der Wachen und anderer Häftlinge holt sie zuerst den etwa 20 Jahre jüngeren David Sweat und später Richard Matt zum Sex in die Hinterzimmer der Knast-Näherei, wo sie das Sagen hat, und lügt jedem frech ins Gesicht, der sie deswegen maßregeln will.
Der „Pursuit of Happiness“
Arquette buhlt nie offensiv um Empathie für Tilly, und doch kann man der Figur, so dreist und rücksichtslos sie auch agiert, doch nicht das Verständnis versagen, wenn sie ihrer Lust und ihren Ausbruchsfantasien von einem neuen Leben mit Matt in Mexiko frönt. Tillys Ehemann Lyle kommentiert einmal in anderem Kontext, dass sie schließlich wie jeder US-Amerikaner das Recht auf ihren „Pursuit of Happiness“ habe. Tilly mag dem Glück auf moralisch fragwürdige Weise nachjagen, doch die Vitalität, mit der sie es tut, ist faszinierend.
Auch die Figuren von David Sweat und Richard Matt sind dank der Schauspieler Paul Dano und Benicio del Toro und das kluge, sich den Figuren und ihrer Lebenswelten mit viel Ruhe widmende Drehbuch von Brett Johnson und Michael Tolkin gut gelungen. Episode 1 beginnt mit der Aufregung unmittelbar nach dem Ausbruch der beiden Sträflinge und zeigt, wie Tilly als potenzielle Mittäterin verhört wird. Von da aus wird bis zur Folge 5 zunächst die Vorgeschichte aufgerollt und Matts und Sweats Leben im Gefängnis und ihre Affäre mit Tilly sowie die Idee und auch die Realisierung der Flucht beleuchtet.
Matt hat sich im Trakt der Lebenslänglichen eine gute Position erarbeitet; er malt und hat freundschaftliche Bande zu einem der Wächter (David Morse) geknüpft, dem er ab und an ein Gemälde überlässt und der ihn im Gegenzug mit Dingen versorgt, die ihn für seine Mitgefangen zur wichtigen Warenquelle werden lassen. Sweat ist sein Schüler und Vertrauter. Regisseur Ben Stiller inszeniert den Alltag der beiden, aber auch Tillys Existenz, in kühlen, matten Farben und konterkariert sie akustisch durch jenen bunten Pop-Sound, den Tilly im Autoradio hört und der zusammen mit ihren bonbonfarbenen Outfits von der diffusen Gier nach einem anderen Leben erzählt.
Die Bedingungen von Freiheit
In einer Episode sieht man, wie Tilly und ihr Mann an einem Wochenende ein kleines Museum für US-amerikanische Geschichte besuchen, wo an die Wurzeln der Vereinigten Staaten erinnert wird. Das ist eine durchaus interessante Facette. Als „land of the free“ feiern sich die USA in ihrer Nationalhymne; der Freiheitsbegriff ist essentieller Teil des Gründungsmythos und des Selbstverständnisses des Landes als Nation von „Ausbrechern“ aus den absolutistischen Regimen des alten Europa. Kein Wunder also, dass die Lust an Ausbruchsstoffen eine verlässliche Konstante der amerikanischen Unterhaltungsindustrie ist. Das Genre feiert immer wieder Helden, die den uramerikanischen Wert schlechthin, ihre Freiheit, unbeugsam gegen beklemmende Zwangs- und Gewaltstrukturen behaupten.
Dem Problem, dass man als Zuschauer dabei genötigt wird, sich mit Kriminellen als Identifikationsfiguren und Sympathieträgern zu solidarisieren, gehen viele Filme und Serien entweder aus dem Weg, indem sie unschuldig Verurteilte als Hauptfiguren wählen (wie etwa die Serie „Prison Break“), oder die Taten der Figuren soweit bagatellisieren, dass die Brutalität des Knast-Systems sie bei weitem übersteigt (etwa in „Flucht von Alcatraz“ oder „Die Verurteilten“). Entsprechend wohlwollend kann man dann zuschauen, wie die Helden Schwächen in diesem System ausfindig machen und ihre Flucht organisieren.
In „Escape at Dannemora“ wird dieses Genre-Muster nur zwischendurch bedient. Wenn Matt und Sweat sich von Tilly Werkzeuge beschaffen lassen, um Öffnungen in die Zellenwände zu sägen und sich einen Weg durch die Wartungsschächte, Rohre und Mauern zu bahnen, dann verfolgt man das mit mitfühlender Anspannung. Dieses simple Schema spielt allerdings nur am Rande eine Rolle, weil es in der sozialrealistischen Charakter- und Milieustudie um etwas wesentlich Ehrgeizigeres geht: nämlich eine feinfühlige, tiefgründige und einigermaßen desillusionierende Erkundung der Bedingungen von Freiheit, sozial, aber auch psychisch.
Die Sackgassen warten schon
Und so liefern die markerschütternde Folge 6, die noch weiter zurück in die Vorgeschichte blickt und zeigt, was Matt, Sweat und Tilly vor ihrer Zeit im Gefängnis getan haben, und Folge 7, die Matt und Sweat nach dem Ausbruch Richtung kanadische Grenze folgt, die tragische Dekonstruktion jedes „Die Verurteilten“-Heroismus. Man sieht, wie sich die Figuren jenseits der Gefängnisgitter in Sackgassen manövrieren, weil sie nicht willens oder in der Lage sind, sich sinnvolle Grenzen zu setzen. Und man erlebt mit, wie zumindest im Falle von Matt der „Pursuit of Happiness“ auf immer dunklere Straßen führt, weil der persönliche Horizont schlicht nicht ausreicht, um eine konstruktive Richtung einzuschlagen.