Stadtgeschichten (2019)

Literaturverfilmung | USA 2019 | 548 (zehn Folgen) Minuten

Regie: Alan Poul

In der Fortsetzung von Geschichten um die bunte Mieterschaft eines Mehrgenerationenhauses in San Francisco steht das Refugium vor dem Verkauf, weil die skurrile Hausbesitzerin erpresst wird. Eine langjährige Mieterin wittert die dunklen Machenschaften, muss sich jedoch zugleich mit einer Identitätskrise ihrer queeren Adoptivtochter beschäftigen, während auch die anderen Hausbewohner mit Veränderungen und ihrer Selbstdefinition hadern. Serienadaption der späteren „Stadtgeschichten“-Romane von Armistead Maupin, die in Inhalt und Besetzung an frühere Fernsehverfilmungen anknüpft. Dabei glücken erneut Querverbindungen der privaten Schicksale zum realen San Francisco, während die gesteigerte „LGBTQ+“-Wahrnehmung sich in der noch deutlicheren Absage an biologische Identitätszuschreibungen äußert. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
TALES OF THE CITY
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Netflix
Regie
Alan Poul · Silas Howard · Stacie Passon · Kyle Patrick Alvarez · Patricia Cardoso
Buch
Lauren Morelli · Andy Parker · Marcus Gardley · Hansol Jung · Thomas Page McBee
Kamera
Federico Cesca
Musik
Jay Wadley
Schnitt
Andy Keir · Allyson C. Johnson
Darsteller
Laura Linney (Mary-Ann) · Ellen Page (Shawna) · Olympia Dukakis (Anna Madrigal) · Charlie Barnett (Ben Marshall) · Murray Bartlett (Michael "Mouse" Tolliver)
Länge
548 (zehn Folgen) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Literaturverfilmung | Serie

In der Fortsetzung von Geschichten um die bunte Mieterschaft eines Mehrgenerationenhauses in San Francisco und die exzentrische Hausbesitzerin steht das Refugium vor dem Verkauf. Zugleich schlagen sich die überwiegend queeren Bewohner mit den Transformationen in der heutigen Gesellschaft herum. Eine zeitgemäße Neuauflage der Adaption des Langzeit-Romanprojekts von Armistead Maupin.

Diskussion

Viele Treppen muss man erklimmen, um in das Anwesen der Barbary Lane zu gelangen. Das mehrstöckige Haus, das mit seiner Freitreppe und den Holzveranden aussieht wie eine große Villa Kunterbunt, liegt hoch über den Hügeln von San Francisco. Von hier aus hat man den Blick über die ganze Stadt, mit ihren steilen Straßen, der hochaufragenden Skyline und dem „Vertigo“-Effekt, der überall zu spüren ist. Die Barbary Lane ist ein Mehrgenerationenhaus, vor allem aber ein Mikrokosmos der Diversität und kulturellen Identitätsbestimmungen. Der jetzt in Gefahr ist, denn Anna Madrigal, die Hausbesitzerin, wird erpresst. Sie muss die Barbary Lane verkaufen, und alle Mieter suchen im teuren San Francisco eine neue Bleibe, ein Akt der Unmöglichkeit. En passant erzählt wird außerdem von Age, Gender, Race, Class und Family. Und wie sich diese Kategorien zu neuen Lebensformen dekonstruieren lassen.

Armistead Maupin hat das Heterotop von Barbary Lane erschaffen, in seinem Feuilleton-Roman „Tales of the City“, der ab 1974 im „San Francisco Chronicle“ erschien. Die Fortsetzungsgeschichten schrieb er als mirror in progress einer sich verändernden Stadt: die neuesten Moden (Sex, Drogen, Musik), das Queere, dessen Wiege San Francisco ist, und das Aufkommen von Aids flossen in die Geschichten des Chronisten ein.

Im Zentrum: Die Landlady Anna Madrigal

Nun ist bei Netflix die auf die Romane zurückgehende gleichnamige Mini-Serie erschienen, ein spätes Revival der bereits 1993 begonnenen TV-Serie, die 1998 und 2001 fortgesetzt wurde. Im Zentrum steht – neben dem Anwesen der Barbary Lane, dem vielstimmigen urban landscape character – die charismatische und geheimnisvolle Landlady Anna Madrigal, gespielt von Olympia Dukakis, die diese bereits in allen Teilen der Serie verkörperte und nun im hohen Alter von 87 Jahren in ihre Paraderolle zurückkehrt. Treibende Kraft ist Mary Ann Singleton, eine Frau aus der provinziellen, weißen Mittelschicht der USA, ein echtes „whitebread girl“, wie sie selbst über sich sagt. Sie will sich nicht mit dem Verkauf des Anwesens abfinden und wittert als einzige Bewohnerin der bunten Hausgemeinschaft Machenschaften. Laura Linney spielt sie, ebenfalls bereits seit 1993.

Auch Paul Gross ist als Mary Anns Ex-Mann Brian seit 1993 dabei. Die wiederkehrenden, in Echtzeit gealterten Schauspieler forcieren die Langzeitperspektive der Serie. Und auch wenn man die Vorgängerfolgen nicht kennt, spürt man das grundierende Zeitkolorit der sich verändernden Stadt. Alles ist hier im Fluss, die Gesellschaft transformiert sich stetig, für Nostalgie ist hier kein Platz. Unaufhörlich strömen die „Stadtgeschichten“ einer Gesellschaft der Zukunft entgegen.

Armistead Maupin hatte seine Romane bereits beendet, als nach siebzehn Jahren die Wiederaufnahme der TV-Serie kam. Er wirkte an der Adaption seiner „Tales“ mit und entwarf neue, junge Figuren. Federführend war dabei Lauren Morelli, die bereits mit Orange is the New Black neue Standards für ein queeres Erzählen im Serienformat gesetzt hat. Die „Tales of the City“ von 2019 sind nun „LGBTQ+“ und reflektieren die Verabschiedung biologischer Identitätsbestimmungen. „Die biologische Familie“ ersetzte Maupin zuvor schon in seiner Autobiographie durch die „logical family“, was jetzt in einer weiteren zentralen Geschichte von Mary Anns und Brians queerer Adoptiv-Tochter Shawna (Ellen Page) wichtig wird, die eine Identitätskrise durchmacht.

Die Millennials hadern mit ihrer Selbstdefinition

Sie ist da nicht die einzige. Auch die anderen Millennials hadern, trotz aller Abgeklärtheit, mit ihrer Selbstdefinition, transformieren sich gar in Kunstfiguren, wie das asiatisch-amerikanische, immer ironische Zwillingspaar mit dem Instagram-Projekt „Twintertainment“. Oder Margot (May Hong) und Jake, gespielt von der non-binären Person Garcia, die sich in der Geschichte wie auch im realen Leben der sexuellen Transformation unterzogen hat. Dass die postmoderne Genderauffassung dabei durchaus an ihre Grenzen stößt – zumal wenn sich durch die veränderten Geschlechtsverhältnisse urplötzlich der Verdacht einer binären, straighten Beziehung auftut – zeigt sich, als sich Margot in eine neue, klar lesbisch definierte Beziehung mit der älteren DeDe stürzt (ebenfalls seit 1993 dabei: Barbara Garrick).

Daneben zieht „Stadtgeschichten“ fortwährend Verbindungslinien aus dem Mikrokosmos der Barbary Lane ins reale San Francisco, wo Ankerpunkte des queeren Lebens die zentralen Schauplätze bilden, wie die Burlesque-Bar „The Body Politic“. Im einzigen Rückblick kehren wir an die „Compton’s Cafeteria“ zurück, wo 1966 mit einem Aufstand der Beginn der LGBT-Bewegung eingeläutet wurde. Er offenbart das dunkle Geheimnis der Anna Madrigal.

Es fällt auf, dass die Macher von „Stadtgeschichten“ ansonsten darauf verzichten, zurückzublicken. Damit erweisen sie sich als erstaunlich nostalgieresistent, mehr als vielleicht die Zuschauer der Serie. So kann, wer nach den zehn Netflix-Folgen Lust auf den großen Bogen der Langzeitgeschichte hat, auf Youtube (leider in schlechter Qualität und im abgeschnittenen 4:3-Format) alle Folgen seit 1993 sehen (oder sich die DVD-Kollektionen als Import bestellen). Und endgültig dem unentrinnbaren Sog der legendären „Tales of the City“ erliegen.

 

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