„Heimatfresser“ sind am Werk. Erst kämen „die kleinen“, dann „die großen“, konstatiert lakonisch ein Familienvater im Angesicht der Bagger und Baumaschinen in Karin de Miguel Wessendorfs Dokumentarfilm „Die rote Linie – Widerstand im Hambacher Forst“. Sein Dorf Immerath muss dem „größten Loch Europas“ weichen: Dem Tagebau Garzweiler.
Dieses Schicksal soll auch den Hambacher Forst treffen. Das eben noch 550 Hektar große Waldstück ist zum Symbol geworden für die Macht der Konzerne, für eine breite Mobilisierung der Bürger – und eine verfehlte Politik: Deutschland wird seine Klimaziele nicht einhalten können, wenn es den Kohleausstieg nicht vorantreibt.
2015 begann die Regisseurin, die sich formierenden Proteste gegen RWE und den Braunkohletagebau zu dokumentieren. Sie begegnete Clumsy, einem Baumbesetzer, der mit seinen Mitstreitern im Baumhausdorf „Oak Town“ lebt. Antje Grothus setzt sich für eine Bürgerinitiative ein, Michael Zobel führt als Waldpädagoge Interessierte durch den Forst, der Familienvater Lars Zimmer bleibt aus Protest in seinem leergefegten Dorf. Mit der Langzeitbeobachtung entschied sich Karin de Miguel Wessendorf für die Kür dokumentarischen Erzählens und spannt einen großen Bogen bis ins Jahr 2018; Antje Grothus sitzt schließlich in der Kohlekommission, während der zurückhaltende Clumsy fast schon zum Medienprofi geworden ist. Dabei stehen die Protagonisten paradigmatisch für eine Entwicklung: Aus kleinen, lokalen Protesten wird eine Bürgerbewegung, die zehntausende Menschen anzieht, mitzieht. Paradigmatisch ist auch die Finanzierungsgeschichte des Films. Während anfangs noch keine Fernsehsender interessiert waren, vieles mühsam und aus eigener Tasche zwischenfinanziert wurde, sprangen sie mit dem steigenden Medienecho auf.
Genese einer Protestbewegung
Die Entwicklung der Widerstandsbewegung erinnert an die Proteste gegen den Bau der Atom-Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf in den 1980er-Jahren; und es ist sicher kein Zufall, dass „Die rote Linie – Widerstand im Hambacher Forst“ nur wenige Monate nach dem Spielfilm „Wackersdorf“ ins Kino kommt. Greta Thunberg, die Fridays for Future, internationale Klimaproteste, aber auch solche gegen Gentrifizierung oder gegen Rechts zeigen zunächst, dass insbesondere junge Menschen wieder politischer denken – und vor allem handeln. Die unmittelbar Betroffenen im Rheinischen Braunkohlerevier sind jeden Alters und bringen vollkommen unterschiedliche Hintergründe mit. Der Schulterschluss zwischen Senioren und Baumbesetzern funktioniert, auch angesichts von alles andere als besonnen agierenden Einsatzkräften, scheinbar mühelos.
In einer zentralen, bewegenden Szene weint die Frau von Lars Zimmer und beklagt die Belastung für die Beziehung, die Familie, die kleinen Kinder. Im Hintergrund wird die denkmalgeschützte, neoromanische Pfarrkirche von Immerath abgerissen. Diese und wenige ähnliche Szenen wirken umso stärker, als der Film es ansonsten eher vermeidet, über Nähe und Emotionen zu erzählen und die Entwicklung zwar keineswegs neutral – die Haltung ist immer ganz klar – gleichwohl sachlich beobachtend nachzeichnet.
Die Rolle der Medien ist immer mit gedacht
Dokumentarfilm, der künstlerische Dokumentarfilm, wird hier auch als Meta-Medium begriffen: Immer wieder reflektiert Karin de Miguel Wessendorf die Rolle der Medien im Konflikt. Sie hat selbst zuvor viel für das Fernsehen gearbeitet, hat recherchiert und veröffentlicht zu Themen wie Videoaktivismus, Community Media und politisch eingreifendem Dokumentarfilm.
Kann Kunst die Welt verändern? „Die rote Linie – Widerstand im Hambacher Forst“ ist ein aktivistischer Film, ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Protestkultur und eine nachdrückliche Aufforderung zum politischen Handeln.